Ein Restaurant, für das ich eine Reise wage

Welches Restaurant ist Ihnen eine Reise wert? Können Sie das beantworten? „Eine Reise wert“ ist die Drei-Sterne-Definition aus dem Michelin-Führer von 1936, seinerzeit ein Büchlein mehr mit dem Ziel, die Grande Nation zu automobilisieren und übers Land zu schicken. Was hervorragend gelang.

Ein Stern bedeutete damals: „Verdient besondere Beachtung“ Noch etwas besser war: „Lohnt einen Umweg.“ Und „eine Reise wert“ bedeutete Höchstklasse. Die Kategorien gelten im Grunde noch bis heute, die Maßstäbe dahinter haben sich aber enorm differenziert, sie sind inzwischen Gegenstand fürs Feuilleton.

Grob gesagt: Weiße Tischdecken sind Mindestvoraussetzung für die 1. Liga, die erbarmenswerte Qualität des Espressos in Sterne-Lokalen scheint den Testern kaum die Rede wert zu sein. Meinen Maßstäben entspricht das nicht ganz, auch wenn die besternten Chefs am Herd ausnahmslos Großmeister sind, keine Frage.

Ganz selten begegnet mir ein Restaurant, für das ich eine Reise wagen will, in diesem Jahr war das wieder Fall und deshalb muss ich hier mit der eisernen Regel brechen, in dieser Kolumne nicht über Restaurants zu schreiben.

Es ist das St. John im Londoner Stadtteil Smithfields, einst ein proletarisches Viertel mit zweifelhaftem Ruf, weil hier erst der Henker, dann Radikale und zuletzt die Fleischer ihre Schilder aushingen. Den Schlachthof gibt es noch immer, einen Steinwurf entfernt, das ist genau der Ort, wo so ein Lokal hingehört. Denn Fergus Henderson, ein ehemaliger Architekt, der sich vor 15 Jahren einen Traum wahr gemacht hat, pflegt hier die „Nose-to-Tail“-Küche – übersetzt: Von der Schnauze bis zum Schwanz kommt alles auf den Tisch, besonders das, was beim Schlachten übrigbleibt.

Sie können sich das nicht vorstellen? Als ich das St. John durch Zufall das erste Mal zur Mittagszeit betrat, herrschte ziemlicher Trubel. Das Lokal war voll, Kellner in weißen Kochjacken rannten mit Tellern umher, auf denen Rindermarkknochen wie Zinnsoldaten aufgestellt waren, das Mark in der Mitte dunkelbraun und am Schmelzen. Die Gästeschaft machte sich mit schmalen Löffeln heißhungrig über das Knocheninnere her, drückte, löffelte, zuzelte. Es war fast wie in einer Szene aus Marco Ferreris Das große Fressen von 1973, genau der Film, der Henderson einst zu dem Gericht inspirierte.

Im St. John stehen auch Schweinskopf und -füße, Nieren, Bries und Blutwurst auf der Karte, es ist ein Lokal für Aficionados von Innereien, oder die, die es werden wollen. Henderson kann da sehr überzeugend sein. In seinem Kochbuch schreibt er über den Schweinskopf: „Das Fleisch ist zart und schmackhaft. Eine Schweinewange hatte dafür genau das richtige Training…“

Wieder so ein verrückter, spleeniger Engländer, werden Sie jetzt denken. Da ist was dran. Aber wenn Sie das Gericht vor sich auf dem Tisch haben, merken Sie sofort, da kocht jemand alte englische Küche mit Sorgfalt, Detailversessenheit und Liebe zur Zutat. Mit radikalen Purismus, dem ich bisher nur in der Toskana begegnet bin. Deko gibt es nicht, weder auf den Tellern noch in dem weiß gekalkten Gastraum mit den scharzen Fabriklampen, die unter der Decke baumeln. Klar, dieses Lokal hat längst Kult-Status und bis in die USA Nachahmer gefunden.

Ein Liebhaber von Innereien bin ich nur für gewisse Stunden geworden. Seitdem ich im St. John war, entdecke ich aber den Zauber der englischen Küche, von Bread-and-Butter-Pudding, Haggis und Blumenkohlsalat. Und, welche Eleganz billiges Gemüse wie Kohlrabi und Sellerieknollen entwickeln kann. Davon in zwei Wochen.

Ach, und noch was: Nehmen Sie nach dem Essen unbedingt einen Espresso.

Welches Restaurant war Ihnen in diesem Jahr eine Reise wert?

Dieser Text erscheint im Freitag vom 10. November in als Folge der Kolumne Koch oder Gärtner?