Weg mit der Hauptrolle

Es passt nicht ganz zur Aura dieser Distelblüte, dass ausgerechnet Marilyn Monroe einmal den Titel „Miss Artichoke“ trug. 1947 war das, zu Beginn der Karriere der Schauspielerin. Denn die Artischocke ist kein naives Blondchen, sondern ein herber, dunkelhaariger Vamp, eher so wie Jane Russell, Monroes Filmpartnerin in Blondinen bevorzugt.

Die Artischocke gibt sich nicht so einfach hin. Obwohl essbar, kann die Blüte im rohen Zustand empfindlich stechen. Mit Vorsicht sollte man sie also behandeln und mit viel Geduld in Zitronenwasser sieden lassen, bevor es darangeht, das Gemüse Schicht um Schicht zu entblättern. Dann, erst dann, schenkt sie uns ihr Herz.

Wenigstens hat man uns das so beigebracht. Denn das ist die mit Abstand bekannteste Art, eine Artischocke zu sich zu nehmen: als Vorspeise. Es liegt dann nichts weiter als diese große, dunkelgrüne Kugel auf dem Teller, daneben steht noch ein Schälchen Vinaigrette, und man lutscht und knabbert gefühlt über Stunden an den Blättern, bevor man einen haarigen Bereich erreicht, der bisweilen an eine Schamgegend erinnert, um dann zum Boden der Blüte vorzustoßen, dem eigentlich Essbaren an der Artischocke. Mir hat diese umständliche Entkleidungsarie aber offen gestanden noch nie viel Lust bereitet.

Auf meinem Wochenmarkt türmen sich derzeit die Artischocken, als befände sich Berlin in der Normandie. Mit dem Unterschied, dass die Berge an Gemüse nicht schrumpfen. „Eine Artischocke zwei Euro, drei Stück sechs Euro“, schreit der Händler, als würde es sich um ein Schnäppchen handeln. Doch ein Mengenrabatt soll trotzdem nicht drin sein. Kann ein Satz besser das gestörte Verhältnis der Deutschen zu diesem Gemüse verdeutlichen? Als ich dem Mann endlich ein Dutzend Artischocken für halbwegs vertretbare zehn Euro abgerungen habe – „Sie werfen sie nachher doch ohnehin weg!“ –, bekomme ich auch noch eine Empfehlung für eine gute Vinaigrette. Die hatte mir gerade noch gefehlt.

Ich mag es nicht, wenn Zutaten so fest auf eine Hauptrolle abonniert sind wie die Artischocke. Ich bin antiautoritär aufgewachsen, also muss diese Diva vom Sockel, oder besser: Es muss Platz auf dem Teller geschaffen werden. Und wenn man sich daran versucht, dann fallen so einige Regeln, die man bisher für selbstverständlich gehalten hat. Man kann die Artischocke zum Beispiel erst entblättern und dann kochen. Sie ist nämlich auch nur ein Gemüse wie jedes andere. Und dieser Vorgang ist wesentlich energiesparender. Ich breche dafür zuerst den Stengelansatz aus dem Blütenboden. Dafür braucht man ein bisschen Kraft, das Gute ist aber: Es lösen sich auch noch einige dicke Fäden aus dem Boden, die nicht unbedingt verzehrtauglich sind. Dann schneide ich großzügig die Blätter ab und entferne die Haare, sodass man in einer Minute ein Artischockenherz vor sich hat, wie man es aus der Dose kennt, nur ungekocht. Jetzt sollte man sofort Zitrone zur Hand haben, denn das Herz läuft an der Luft sehr schnell schwarz an.

Man kann das Artischockenfleisch nun in Scheiben schneiden und kurz anbraten. Oder man kocht es für etwa zehn Minuten und macht ein Püree daraus. Das ist gerade mein Favorit. Weil dieser Stampf ein sehr charaktervoller Begleiter zu gebratenem Meeresfisch ist. Er unterstreicht den Geschmack etwa von Dorade, Wolfsbarsch oder Rotbarbe. Sparen Sie sich Milch und Butter wie im Kartoffelpüree, etwas Brühe, Olivenöl und ein paar Spritzer Zitrone sollten reichen, um mit dem Zauberstab ein sämiges Püree zu mixen.

Ach, übrigens: Jane Russell, besagter Vamp, hat in ihrer Karriere eine wichtige Auszeichnung bekommen: als „best cooperating actress“. Eine echte Artischocke.

Foto: TonalLuminosity | CC

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