Das Jahresendvogel-Problem

Wir befinden uns mitten in der Saison der großen toten Vögel. Sie beginnt traditionell mit Thanksgiving, der amerikanischen Weiterentwicklung des Erntedankfestes. Jeden vierten Donnerstag im November werden dort Truthähne mit dem Durchschnittsgewicht eines Säuglings in die Öfen geschoben. Die Saison endet mit den Christtagen, die Weihnachtsgans wird hierzulande immer beliebter. Mein Metzger sagt, die Leute begännen schon im August mit den Bestellungen.

Eigentlich verwunderlich. Mit dem Trend zur Single-Gesellschaft sollte man meinen, dass Kleinstvögel wie Wachtel oder Stubenküken mehr in Mode kommen. Solche Mini-Broiler sind im Handumdrehen gebraten. Doch wir leben eben auch in Zeiten der Rückbesinnung auf die Familie – siehe Herdprämie –, was dann – siehe Herdprämie – ganz unzeitgemäße Folgen hat.

Man sollte aus diesem Grund mal den Brauch um das Festtagsgeflügel klären, die wenigsten scheinen über seine Herkunft noch Bescheid zu wissen. Eigentlich ist die Weihnachts- eine Martinsgans. Vor der 40-tägigen Fastenzeit, die der christliche Kalender früher vor Jesus’ Geburtstag bestimmte, wurde noch einmal richtig gespachtelt. Das war meist das Fest des Heiligen Martin. Gänse boten sich für diesen Termin an, weil es sich kaum lohnte, das Großgeflügel durch den Winter zu füttern. Viele Knechte und Mägde wurden damit auch nach der Erntezeit entlohnt. Und in Zeiten, als es noch möglich war, Steuern in Naturalien zu entrichten, nahm der Finanzbeamte am besten einen Gänsehirten mit. Das Geflügel war eine beliebte Währung.

Ich finde, das erklärt auch, warum die Menschheit bis zur Erfindung der Gefriertruhe kaum Verfahren entwickelte, um totes Federvieh zu konservieren, etwa in Form von Wurst oder Schinken. Sie kamen erst mit der Vorliebe für mageres Fleisch in den letzten Jahrzehnten auf. Aber wer sich schon mal mit einer Fünf-Kilo-Gans abgeplagt hat oder einem noch größeren Truthahn, kennt das Problem: Je größer der Vogel, um so trockener das Ergebnis.

Allerdings: Das ist kein Naturgesetz. Selbst ein Truthahn kann sich in einen sehr saftigen Braten verwandeln. Um das zu schaffen, sollte man sich vor Augen führen, warum Fleisch trocken wird. Ganz einfach: Es verliert Wasser. Deshalb füllt man Vögel. Der leere Bauchraum bietet eine riesige Austrittsfläche. Welche Füllung man verwendet, ist eigentlich egal, sie sollte feucht sein. Man könnte auch Watte nehmen, die vorher gewässert wurde. Aber eine Mischung aus Früchten, Gemüsen und Brot, das eingeweicht wurde, ist viel appetitlicher – und schmeckt auch besser. Außerdem ist es gut, mit niedrigen Temperaturen zu operieren. Rezepte, bei denen die Vögel bei 140 Grad oder niedriger vom frühen Morgen an im Ofen liegen müssen, gelingen immer.

Mein Geheimtipp aber heißt Pökeln. Ich lege den Truthahn 24 Stunden in Salzlake ein, in der eine Menge Kräuter schwimmen. 50 Gramm auf ein Liter Wasser ist das Mischungsverhältnis. Am besten nimmt man dafür große Mülltüten, steckt gleich mehrere ineinander, denn man muss das Paket fest zubinden. Der Vogel soll von allen Seiten mit Lake bedeckt sein. Das ist eine Technik, die auch aus einem Stück Schweinefleisch ein saftiges Kasseler macht. Das Salz sorgt dafür, dass das Fleisch im Ofen weniger Wasser abgibt. Und das salzige Aroma hebt den Fleischgeschmack.

So sollte die Weihnachtsgans also gelingen. Trotzdem: Ein erfahrener Koch vergisst nie, Unmengen an Soße vorzubereiten. Denn das ist der eigentliche Grund, warum die Tradition mit dem Festtagsgeflügel nicht abreißt. Die Soße ist mehr als eine Entschädigung, wenn der Vogel wie schon im vorigen Jahr doch wieder ziemlich staubt.

Foto: LoopZilla | CC

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