Die Fremde um die Ecke

Mein Asia-Laden hat geschlossen. Die goldene Glückskatze winkt nicht mehr im Schaufenster, die gewundene Neonröhre über der Tür ist auch weg. Zu jeder Tages- und Nachtzeit verkündete sie blinkend open, egal, ob innen Licht brannte oder nicht.

Ich blicke durch die Scheibe, die im Winter immer angelaufen war. Die Schatten der Kunden spiegelten sich in der milchigen Feuchtigkeit. Ich höre noch den ununterbrochenen Anschlag auf den Kassentasten, darüber den schrillen Brei aus Asiapop. In der dunklen Leere hängt nur noch ein Plakat. Ein kleiner asiatischer Junge, wie eine Putte, zeigt seinen Bizeps. Für was er wohl wirbt? Nachwuchs-Kung-Fu? Die Kraft der Milch? Ist er vielleicht ein vietnamesischer Kinderstar? Es ist das erste Mal, dass ich mich das frage, das Plakat ist mir nie aufgefallen. Genauso wie mir das erste Mal der Begriff „mein Asia-Laden“ in den Kopf kommt.

Als Koch hat man seine Spleens. Die Suche nach neuen Zutaten, der Wille, einem Rezept völlig gerecht zu werden, führt einen auf verschlungene Wege durch die Stadt. Sie können zur Gewohnheit werden. Andere Leute gehen in Ausstellungen, ins Kino oder ins Museum. Ich besuche Geschäfte wie meinen Asia-Laden.

asiakräuter
Viele Kräuter und Gemüse. Alles Thai?

Man musste sich hier durch enge Regalreihen zwängen. Aus dem Staunen kam man selten heraus: über Verkäuferinnen, die sich zu beschimpfen schienen, wenn sie etwas sagten; über große Stinkfrüchte, an denen stand „Berühren verboten“; über Krabben in Styroporboxen, die ständig übereinander und bis an den Rand krabbelten, aber nie hinausfielen. Warum roch es hier nach vergorenem Bambus, nach Schweröl aus dem Containerhafen? Wieso lag hier Reis in Zementsäcken aufgeschichtet? Und weshalb war das Glas mit chinesischer Bohnenpaste „Made in Korea“?

Rätsel über Rätsel. Um sie zu lösen, konnte man selten Hilfe erwarten. Einmal hatte ich vier Beutel mit dem unterschiedlichsten Blattwerk in der Hand, auf allen stand „Basilikum“. „Ich brauche Thai-Basilikum“, sagte ich zu der Frau an der Kasse. „Alles Thai“, entgegnete sie kurz angebunden.

Manchmal half man sich untereinander. Zum Beispiel, wenn jemand nach Kombu fragte, getrockneter Seetang, der in Japan in die Suppe kommt. Der Verkäufer zuckte nur die Schultern. Ein anderer Kunde sagte: „Hinten beim Sushi.“ „Mein Asia-Laden“ wurde von Vietnamesen geführt. Ganz sicher.

Man fühlte sich hier immer unaufgehoben. Aber genau das machte die Faszination aus. In „meinem Asia-Laden“ war man fremd und hatte fremd zu bleiben. Nie konnte sich die Frau an der Kasse ein Lächeln abringen oder irgendein anderes Signal des Wiedererkennens, obwohl ich regelmäßig kam.

Einen Scanner gab es nicht. Warum auch, so schnell, wie sie die Preise eingab. Sie hatte alle im Kopf. Aber es schien mir, sie erwartete, dass ich genau so schnell einpackte. Wenn es ihr zu langsam ging, bewarf sie den Pak Choi, die Chilisoße, den Basmati-Reis, die Dosen mit Kokosmilch und all die anderen Einkäufe mit einer Abreißtüte nach der anderen.

Als ich einmal sagte, wie sehr ich den Laden mochte, verzog sie den Mund nur zu einem sauren Ausdruck, schob mir dann aber noch etwas in die Tüte: ein Ding, das ungefähr so aussah wie ein Sparschäler. Sich aber als Zungenreiniger entpuppte. Auf der Packung lächelte eine Comicfigur, die verdammt nach Kim Jong Il aussah. Was sollte das nun wieder bedeuten?

Inzwischen hat hier ein Espresso-to-go-Laden eröffnet. Und ich habe ein anderes Geschäft gefunden, das Miso führt, Senfgemüse, Lotuswurzeln. Vieles ist hier genau wie im alten. Aber ich habe beschlossen, es schneller „mein Asia-Laden“ zu nennen.

Fotos: SpirosK | CC, dcmaster | CC

Ein großer Esser

Um die Verehrung dieses Mannes in Südafrika und die noch zu Lebzeiten einsetzende Trauer um Nelson Mandela zu begreifen, gibt es für mich nichts Besseres als ein Buch, das mir vor einiger Zeit in die Hände gefallen ist. Es heißt Hunger for Freedom, und die Autorin Anna Trapido versteht es als gastro-politische Biografie dieses großen Freiheitskämpfers.

coverNicht, dass dieser Mann früher ein übermäßiger Esser war. Das hätte man ihm angesehen. Und Trapido versammelt in diesem Buch auch nicht etwa die Lieblingsgerichte Mandelas. Dann wäre ihr Buch ziemlich geschmacklos. Es ist eine große Fleißarbeit, eine in Buchform gegossene Oral History. Zwar hat die Autorin dafür auch Mandela selbst, Familie und Weggefährten besucht, vor allem aber mit Kinderfreunden, Nachbarn und Bekannten, Wärtern und Mitgefangenen, Fahrern und Bediensteten des späteren südafrikanischen Präsidenten gesprochen.

Und sie macht dabei auch nicht den Fehler, der Frage nach dem „Du bist, was du isst“ so nachzugehen, als wolle sie das Wesen eines Politikers und Staatsmannes beantworten. Es ist vielmehr ein Vehikel, um anhand eines Menschen, über den so viele Zeugnisse existieren, die Befreiung aus der Apartheid und den Aufstieg der schwarzen Bevölkerung zu erzählen – und davon, wie einschneidend das für das einfache Leben war.

Hähnchencurry nach der Freilassung

Ich kenne die Geschichte Südafrikas nicht ausreichend genug, darum haben mich einige Schilderungen Trapidos etwas überfordert. Trotzdem vermittelt sie ein eindringliches Bild, wie die „Rassentrennung“ in den fünfziger Jahren bis in den letzten Winkel des Alltagslebens eingesickert war. So hatten schwarze Bürgerrechtler nur kleine Schnapsgläser in der Hand, um schnell austrinken zu können und bei einer Razzia nicht wegen illegalen Alkoholkonsums festgenommen zu werden. Und die Hochzeit Winnie und Nelson Mandelas 1958 war ziemlich einsam. Viele Freunde saßen im Gefängnis oder waren im Exil. Verblüffend ist auch, zu lesen, welche Aufregung und Hektik im Haus von Bischof Tutu ausbrach, als Mandela nach 27 Jahren Haft im Februar 1990 ein paar Tage früher freikam als erwartet und kein Willkommensessen vorbereitet war. Es gab dann Hähnchencurry und Rum-Rosinen-Eis zum Nachtisch. Auch welthistorische Ereignisse haben immer ganz banale Seiten.

Natürlich schildert dieses Buch auch einen sehr volksnahen und geselligen Mann, der immer viele Gäste um sich versammelte und der wahrscheinlich auch ein Menschenfänger war. Und es gibt eine Ahnung von der Aura, die Mandela zum Ende seiner Amtszeit entwickelte, und welch liebevolle, väterliche Autorität die Südafrikaner in ihm akzeptierten.

Essen ist nicht alles, und diese kulinarische Biografie wird wohl ein seltenes Experiment der kulinarischen Literatur bleiben. Vielleicht auch, weil nicht nur, vor allem aber in den Erzählungen und Briefen aus der Haft deutlich wird, wie wichtig es nicht nur fürs Überleben, sondern auch fürs Leben und Menschsein an sich ist, eine Mahlzeit zuzubereiten und gemeinsam genießen zu können. Nelson Mandela gewöhnte es sich an, Mitgefangene zu Geburtstagen mit einer aus Ersatzzutaten zusammengebrauten heißen Schokolade zu bewirten. Jeder einzelne Schluck muss ein kleines Fest der Freiheit gewesen sein.

Vor diesem Hintergrund habe ich auch die folgende Anekdote von Tokyo Sexwale gelesen, einem langjährigen Weggefährten und Mitgefangenen auf Robben Island. Er erzählt, wenn Mandela auch noch als Präsident seine Gäste zum Essen rief, habe er das immer mit den Worten getan: „Let’s go to battle.“ Doch, das sind Worte auch eines ganz großen Essers.

Foto: Darren Smith | CC

Pfeffrig und knisternd

Es ist eigentlich nur eine Zapfstelle. Eine Theke, an die kaum ein Dutzend Menschen passen und drei Bierhähne. Im Ausschank von Johannes Heidenpeter in der Kreuzberger Markthalle neun stecken Fülle, Farbe und Kreativität alleine in dem, was im Keller darunter gebraut wird und was dann oben ins Glas fließt.

thirstyladyRegelmäßig sind das Novitäten, denn Heidenpeter, der sein Dasein als freier Künstler an den Nagel gehängt hat, experimentiert nicht nur mit vielen Bierstilen, er wirft dann und wann auch Orangenschalen, Koriandersamen oder Sternanis mit in den Sud. Als ob er täglich beweisen wollte, zu welcher tristen Eintönigkeit das Reinheitsgebot führt. Es gilt nur ein Gesetz: Hier wird obergärig gebraut – also wie beim Kölsch, bei Zimmertemperatur.

Von Bier ist daher auch auf dem Etikett keine Rede. „Alkoholischer Malztrunk“, heißt es dort. Die „Thirsty Lady“ ist bereits ein Klassiker im sonst fast unübersichtlichen Sortiment und seit wenigen Monaten nicht nur am Hahn, sondern auch in der Halbliterflasche erhältlich. Es aber wegen seines Namens für ein Damenbier zu halten, wäre falsch.

Man könnte es als helles Pale Ale beschreiben oder als dunkles Kölsch; es ist naturtrüb und bernsteinfarben. Im Geruch taucht ein Hauch von Grapefruit auf, es dominieren aber Noten von Lorbeer, Rosmarin und Zeder. Beim ersten Schluck knistert das Bier auf der Zunge, es wirkt noch würziger, die Kohlensäure ist angenehm temperamentvoll, zurück bleibt ein aromatischer, pfeffriger Nachklang. Das hat Klasse, bei aller Schlankheit, mit der das Bier daherkommt. Tatsächlich: eine Lady.

Thirsty Lady, Heidenpeters, Stammwürze 11,8 Prozent, Alkohol 4,9 % Vol.

Klein, aber oho

Berlin, nun mit insgesamt 19 Michelin-Sternen dekoriert, soll man seit einer Woche endgültig kulinarische Hauptstadt nennen dürfen. Das meinen die Kollegen von der Gastro-Kritik, auch wenn ein 3-Sterne-Restaurant noch fehlt. Gut, dass sich eine solche Einsicht endlich durchsetzt, auch wenn sich an der Spree schon etwas länger neue Tendenzen entwickeln als bisher wahrgenommen. Und nicht nur in der Haute Cuisine.

Tapas im Reinstoff
Tapas im Restaurant Reinstoff in Berlin

Für die Entwicklung der deutschen Gastronomie sind Sterne meiner Ansicht nach auch nicht das Maß aller Dinge. Was sich dahinter in der Breite tut, darüber sagt die Verteilung des „Bib Gourmand“ mehr, des Michelin-Prädikats für gute Küche zu kleinen Preisen. Auf dieser Ebene hat sich ein ziemlich festes Fundament von Lokalen etabliert. Und hier entwickelt sich, noch langsam, eine neue Art von Menü. Manche Gäste begrüßen das nicht unbedingt: „Schon wieder dieser ganze Kleinscheiß“, entfuhr es einem meiner regelmäßigen Gegenüber am Tisch neulich, als wir die Speisekarten aufschlugen. „Kleine Schweinereien“ waren die ersten Seiten überschrieben. Er wollte einfach nur ein Schnitzel und keine „österreichischen, italienischen oder irgendwie asiatischen Tapas“, wie er sich ausdrückte.

Aber mir gefällt’s. Kleine Speisen, eigentlich Kinderteller, von denen man drei oder vier bestellen kann, je nach Belieben, und auch nicht schon bei der ersten Bestellung wissen muss, wie viel Appetit man noch für den Abend entwickeln wird – ich finde, das hebt den Genuss. Ich bin ohnehin ein Vorspeisenesser und lasse gern den Hauptgang weg, um dafür ein, zwei Entrées mehr zu bestellen. Das verwirrt zwar oft die Bedienungen, eine fragte mich sogar einmal besorgt: „Davon wollen Sie satt werden?“ Aber wir konnten das dann klären. Und wie ein Fleisch gebraten ist, erzählt mir weniger über einen Koch als sein Umgang mit Aromen. In den Gerichten aus der Vorspeisenkarte steckt meist mehr Experimentierfreude und Eigenart.

Tapas also! Pincho wäre der bessere Begriff. Das ist die baskische Entsprechung der kleinen spanischen Häppchen, aber viel aufwendiger konzipiert, wie eigene kleine Gerichte. Tapa meint Deckel und hat sich aus dem Brauch entwickelt, eine Scheibe Brot auf das Weinglas zu legen, um Fruchtfliegen oder andere Insekten abzuhalten – vor allem wenn im Glas süßer und duftender Sherry wartete. Irgendwann begannen die Wirte dann, die Brotscheiben noch weiter zu garnieren.

Pincho dagegen heißt auf Baskisch „Spieß“. Bis heute werden diese Miniaturgerichte von Zahnstochern zusammengehalten, nach ihrer Zahl bestimmt sich am Ende die Höhe der Rechnung. Ursprünglich waren beide Varianten Zwischenmahlzeiten oder kleine Imbisse, denn auf der iberischen Halbinsel wird erst kurz vor Mitternacht zu Abend gegessen, und bis dahin hat man viel Zeit, in den Bodegas schon den ein oder anderen Aperitif zu trinken. Inzwischen hat sich aus den Weinbegleitern aber eine ganz eigene Art des Essens entwickelt, mit Festen und Wettbewerben im Norden und im Süden Spaniens. Eine ganz ähnliche Tradition gibt es übrigens rund um das andere Ende des Mittelmeers: Meze heißen die Vorspeisen über alle Sprachgrenzen hinweg in Griechenland, der Türkei und fast im gesamten arabischen Raum.

Doch noch einmal zurück zu den neuartigen Tapas hoch oben im Norden. Ich mag daran, dass die Speisen dazu einladen, das Essen miteinander zu teilen. Bei der Größe der Tellerchen scheint das paradox. Aber wenn viele davon mitten auf dem Tisch stehen, und das passiert nicht selten, dann will meist auch der eingefleischteste Schnitzelesser von dem ein oder anderen kosten.

Foto: weather-system | CC, Larry Half | CC

Zum Wohl, Frau Nahles

Kann es ein harmonischeres Bild der neuen großen Koalition geben? Die SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles und ihr Gegenüber von der CSU, Alexander Dobrindt, sitzen gemeinsam beim Italiener. Nahles nippt zurückgelehnt an einem Glas Rotwein, Dobrindt lächelt ihr zu. Die Aufnahme, die vorige Woche von der Bild-Zeitung veröffentlicht wurde, hat Potenzial, zum emblematischen Foto der neuen Regierung zu werden. Ganz ähnlich wie eines der Urbilder von Rot-Grün 1998: Joschka Fischer und Gerhard Schröder feiern da ausgelassen mit Sektflöten in der Hand. Oskar Lafontaine daneben steht schon ein wenig im Hintergrund.

nahlesdobrindt
Das Beweisfoto. Screenshot: bild.de

Es lässt sich viel in das aktuelle Bild hineinlesen: Wenn schon die beiden zum Essen gehen, zu deren Job eigentlich gehört, Aufeinandertreffen möglichst unverdaulich zu gestalten, wie ist es dann erst um den Rest von Schwarz-Rot bestellt? Und das zu einem Zeitpunkt, da die Sondierungsgespräche gerade erst am Anfang sind. Haben Hannelore Kraft und Angela Merkel am Ende schon gemeinsam Streusel gemacht? Und wenn ja, wie ist das einzuordnen?

Die Frage ist nicht zu beantworten. Wie der Politikwissenschaftler Lars Geiges vor kurzem in der Zeitschrift „Indes“ dargestellt hat, ist das kulinarische und gastronomische Feld in der Politologie ein bisher sträflich unbeachtetes Forschungsgebiet. Dabei gäbe es darüber viel zu sagen. Von Pressefrühstücken über Empfänge bis zu Dinners: das öffentliche Essen gehört noch heute so zum Geschäft der Mächtigen wie seit Jahrhunderten – auch wenn in Zeiten der Demokratie nicht mehr ein ganzer Hofstaat darauf wartet, zum Löffel greifen zu dürfen, weil der Regent den ersten Bissen getan hat.

Die Mahlzeit im politischen Raum, daran erinnert Geiges dankenswerterweise, ist praktizierte Herrschaft. Niemand hat das übrigens besser beherrscht als einer der größten Könner im Umgang der Macht, nämlich Helmut Kohl. Er scharrte oft mehrere Male in der Woche ein Küchenkabinett um sich, das aus Mitarbeitern wie Ministern bestand. Beim ausgiebigen Spachteln waren die üblichen Hierarchien schnell obsolet, so dass sich richtige Arbeitssitzungen entwickelten. Aber nirgendwo sonst erlaubte sich der Kanzler gleichzeitig, andere so abzukanzeln, wie zu Gelegenheiten, wenn die Teller abgeräumt waren.

Auch das sogenannte informelle Essen, das weiß jeder aus eigener Erfahrung, bietet unzählige Möglichkeiten der Machtausübung. Wer lädt ein? In welches Lokal? Trifft man sich am Ende auf neutralem Boden? Oder in Wahrheit doch im zweiten Wohnzimmer des Anderen? All dies wären interessante Informationen, um das Treffen von Nahles und Dobrindt besser beurteilen zu können.

Gesetzt, dass es im politischen Raum nur selten um Harmonie geht, stellen sich noch viel weitergehende Fragen. Beanspruchen hier zwei Esser als Erste die Definitionsmacht, dass es zu Schwarz-Rot keine Alternativen gibt, trotz aller Hürden, die vielleicht noch auftauchen? Sollen wir die, die gestern noch als Scharfmacher galten, morgen als Architekten der Koalition bezeichnen? Weil Dobrindt und Nahles jeder für sich schon über die Post-Merkel-Ära hinausdenken.

Auch wenn diese Fragen rhetorisch klingen: Sie sind pure Spekulation. Die Rituale und Routinen der politischen Mahlzeit sind weiße Löcher für den professionellen Beobachter. Wenn Zwei sich zum Essen treffen, dann menschelt es vor allem noch. Nur eines ist sicher: Es wird nicht das letzte Mal gewesen sein. Denn die Bild weiß auch, wer die Rechnung übernommen hat. Nicht etwa die Kanzlerin, sondern Dobrindt. In heutigen Zeiten kaum zu glauben, dass sich Frau Nahles da nicht revanchieren wollte.

Halloween ist vorbei

Ja, dabei könnte es sich auch um Kürbisse handeln: „Hokkdinida“ steht auf dem Schild an dem Stand kurz vor der Kurve. Man sieht zurzeit viel davon, fährt man über Land. Die Stände, die sonst Spargel, Erdbeeren oder Pilze anbieten, haben große Haufen von Kürbissen aufgetürmt. Manchmal liegen sie auch einfach am Straßenrand, ohne eine Menschenseele, die sich um den Verkauf kümmern würde. Man darf selbst entscheiden, ob man die gewünschte Summe in die Sparbüchse steckt. Auch bei den „Hokkdinida“, einer Sorte, die mir in Bayern begegnet ist, war das so. Es handelte sich um orangerote Exemplare, fast so groß wie Medizinbälle und geeignet, mich darauf „niederzuhocken“, aber eigentlich sahen sie doch eher nach Hokkaidos aus.

Der Kürbis: Es ist die schiere Größe und die harte Schale dieser Frucht, die uns erfinderisch gemacht hat, daraus mehr zu machen als nur eine Zutat. Nicht nur als Sitzgelegenheiten (wofür sich andere Kürbisse übrigens weit besser eignen als der Hokkaido), als Laterne, Instrument, Maske, Zierrat oder auch als Schüssel oder Becher. Es mag sein, dass außerdem nur wenigen beim Gedanken daran das Wasser im Mund zusammenlief. So wie dem populären französischen Kochbuchautor, der unter dem Pseudonym Menon publizierte: „Sie taugen zu nichts anderem als zu Suppe mit Milch“, schrieb der schon Ende des 18. Jahrhunderts.

Doch es hat eine Renaissance eingesetzt. Zu verdanken ist das vor allem dem – genau „Hokkdinida“. Der Hokkaido schmeckt nussig, ein wenig wie Kastanie, in Frankreich wird er darum auch Potimarron genannt, Maronenkürbis. Ein weiterer Vorteil: Seine Schale ist essbar, im gekochten Zustand. Doch am wichtigsten: Es gibt ihn eigentlich nie so ausladend wie ein Sitzpuff, sondern eher handballgroß, was auch in kleineren Haushalten den Respekt vor der Bevorratung abgebaut haben dürfte. Denn einen Kürbis zu kaufen und ihn dann wochenlang zu Suppe pürieren zu müssen, ist keine schöne Vorstellung.

Diesen Kürbis nur zu Brei zu machen, finde ich aber langweilig. Es gibt viel mehr Möglichkeiten: Für Faule bietet sich an, den Hokkaido in Stücke zu schneiden, zu salzen, in etwas Olivenöl zu wenden und dann im Ofen zu backen. Unter der karamellisierten Kruste beißt man dann in butterweiches Kürbisfleisch, sehr köstlich. Wegen der Süße, die sich beim Kochen entwickelt, kann man auch starke Aromen dagegensetzen, zum Beispiel Salbei. Es gibt ein Risotto-Rezept aus Norditalien, bei der ich diese Kombination entdeckt habe, sie inzwischen aber nicht nur mit Reis, sondern auch mit Pasta versucht habe. Einer meiner Favoriten ist aber Matjes. Salzsaurer Hering mit süßlichem Kürbisstampf, da kommen die besten Bratkartoffeln nicht gegen an. Und dann Kürbis-Crumble. Das Dessert sollte man unbe-dingt mal versucht haben. Ich mische noch Birnen darunter und gebe in die Mehl-Zucker-Butter-Mischung für die Streusel noch zerstoßene Amarettini.

Der Kürbis ist übrigens ein Weltenbummler. Obwohl heutige Speisekürbisse meist lateinamerikanische Vorfahren haben, kannten schon die Römer das Gewächs. Während viele Lebensmittel von Händlern und Botanikern rund um den Globus verteilt wurden, scheint es, der Kürbis habe das selbst angestellt. So hohl und wegen der harten Schale kann sich die Frucht weit übers Meer treiben lassen. Auch der Hokkaido hat eine ziemlich weitgereiste Geschichte. Es handelt sich um eine japanische Weiterzüchtung einer brasilianischen Sorte, die ursprünglich von den Portugiesen nach Europa eingeführt wurde. Er kann es also verschmerzen, wenn sich die Bezeichnung „Hokkdinida“ in Süddeutschland einbürgern sollte.

Foto: Zeitfixierer | CC

Ansicht eines Clowns

Der Dialog im Werbespot klingt wie aus einem Kinderbuch, das böse ausgehen wird. Ein kleiner Junge beginnt: „Meine Mutter sagt, ich soll niemals mit Fremden sprechen.“ Der Mann neben ihm antwortet: „Deine Mama hat wie immer recht. Aber ich bin Ronald McDonald. Und jetzt gib mir was von deinem Shake.“ Es sind die ersten Worte, die der berühmteste Clown der Welt sprach.

Warum musste es gerade so ein August sein, fragt man sich heute: eine Gestalt, die nicht immer ein Sympathieträger ist, die vielen Menschen Angst einflößt, über die wir lachen, selten mit ihr. Wie kam eine kleine Fastfood-Kette dazu, ihre Hamburger ausgerechnet von so einem Hanswurst verkaufen zu lassen? Und das seit fünfzig Jahren.

2554630372_b4271374e8_mDer Geburtstag des Clowns ist ein recht wenig beachtetes Jubiläum. Zu Unrecht – bei einer solchen Biografie: Die allseits bekannte Pappnase ist in den vergangenen fünf Jahrzehnten zur Hassfigur eines aggressiven, weltumspannenden Konzerns geworden. Doch das liegt nicht nur an McDonald’s. Ronalds Geschichte ist auch die des Clowns in heutigen Zeiten.

Als Ronald im Herbst 1963 das erste Mal auf einigen TV-Kanälen im Raum Washington zu sehen war, auf vielen Geräten noch in Schwarz-Weiß, machte sich McDonald’s gerade daran, den amerikanischen Markt zu erobern. Ray Kroc, der erste Franchise-Nehmer, hatte den Brüdern McDonald das Unternehmen abgekauft und perfektionierte das System, Filialen nicht selbst aufzubauen, sondern Lizenzen an Restaurantgründer auszugeben.

Ein Jahr zuvor waren das erste Mal US-weit Anzeigen in überregionalen Magazinen geschaltet worden. Dass McDonald’s am Ende des Jahrzehnts ein börsennotiertes Unternehmen sein würde, mit den ersten Filialen in Europa, zeichnete sich noch lange nicht ab. Aber Ray Kroc hatte bereits eine neue Zielgruppe identifiziert, die ihm helfen sollte, sein Hamburger-Imperium aufzubauen: Kinder.

OriginalronaldmcdonaldDer Clown sollte sein engster Verbündeter werden. Selten wurde das so klar wie in dem ersten TV-Spot mit dem eingangs zitierten Dialog. Noch sah der Clown nicht so aus, wie wir ihn heute kennen. Es fehlten die übergroßen Schuhe und die rote Perücke. Der erste Ronald McDonald, übrigens gespielt von dem damals sehr bekannten TV-Meteorologen Scott Willard, ein US-Kachelmann der 60er Jahre, sah eher aus wie die Vogelscheuche aus dem „Zauberer von Oz“, mit einem Pappbecher auf der Nase und einem Tablett als Hut, darauf Hamburger und Pommes.

Clownerie betrieb er nie

Vier Jahre später wurde Ronald McDonald als Warenzeichen eingetragen. Geschützt waren fortan der rot-gelbe Overall, die rot gestreiften Strümpfe, die übergroßen roten Schuhe und ein weiß geschminktes Gesicht mit roter Perücke. Ein Lebensmittelkonzern reklamierte auf einmal das Recht auf eine Figur, die seit Jahrhunderten der Gesellschaft den Spiegel vorgehalten hatte, die tolpatschig durch Zirkusarenen lief, in Sketchen Neid, Liebe, Wut und Eifersucht freien Lauf gab. Und die einen zu einem Lachen brachte, das immer auch nah am Weinen war.

Der Clown ist keine so positive Gestalt, er war es nie. Ob Hanswurst, Kasper oder Pierrot, in sämtlichen Kulturen gibt es diese Figur, ob in der Antike, bei den alten Chinesen oder in nordamerikanischen Indianergesellschaften: karnevaleske Persönlichkeiten, eigentlich gesellschaftliche Outsider, mit unstillbarem Appetit auf all das, was die Gesellschaft tabuisierte. Ein Triebtäter, über den man lachte, solange er nur spielte.

Ronald McDonald übernahm von diesem Charakter zunächst nur das Kostüm. Clownerie betrieb er nie. „Chief Happiness Officer“ nannte ihn der Konzern. Sein Erfinder, Scott Willard, hatte sich das von Bozo abgeschaut, Moderator einer damals bei Kindern beliebten TV-Show. Bozo trat in blauem Kostüm, mit riesiger Halskrause, weißem Gesicht und einem überdimensionalen, feuerroten Haarkranz auf, war aber nicht mehr als ein gut meinender Sympathikus, der Kinder beschenkte, ihnen Geschichten vorlas und ziemlich vernünftig war. Eigentlich eine Figur wie der Weihnachtsmann. Ronald McDonald verkörperte noch eine kleine Spur mehr Anarchie.

Der bekannteste Kindergärtner der Welt

Mit ihm wurden die Kinder zu Botschaftern des Fastfood. Kleinkäsehoch wurde bei McDonald’s König. Die übergroße Plastikfigur am Eingang, bunt dekorierte Räume, in denen man Freunde zum Geburtstag einladen konnte und denen der Clown Tabletts mit Pommes und Hamburgern servierte. Noch bevor Kindergärten so lustig und bis zur Höhe der Pissoirs kindgerecht gestaltet waren, hatte McDonald’s das vorweggenommen. Und Ronald war zum nettesten und bekanntesten Kindergärtner der Welt geworden. Er hatte eine Autorität bekommen, die Eltern nur selten angreifen wollten. Schließlich handelte es sich um eine Witzfigur.

In den USA war der Clown in den 70er Jahren bei Kindern bekannter als Micky Maus. Vielleicht hätte es ewig so weitergehen können, wenn nicht zur selben Zeit das Böse am Clown wiederentdeckt worden wäre. 1980 war in den USA das Jahr einer aufsehenerregenden Mordserie. John Wayne Gacy, ein ehemaliger Koch in einem Restaurant von Kentucky Fried Chicken, hatte jahrelang Kinder als „Pogo der Clown“ auf Straßenparaden unterhalten. Immer wieder hatte er mithilfe des Kostüms bei Jungen Vertrauen erweckt, sie aber dann eingekerkert, vergewaltigt und anschließend umgebracht. Unter seinem Haus wurden 28 Leichen ausgegraben. Der Killer-Clown, wie ihn die Medien nannten, wurde zwölfmal zum Tode verurteilt und 1994 hingerichtet.

Von da an sollte der nette Perückenträger zu einer sinistren Persönlichkeit werden. Das färbte auch auf das Fastfood-Maskottchen ab. Die Düsseldorfer Punkband „Der Plan“ sang von „gefährlichen Clowns“, die als gelbrote Ronald McDonalds Deutschland in ein Junkland verwandeln wollten.

Das Böse im Clown

Und in der Popkultur wurde der Clown zu einer Horrorgestalt: In „Poltergeist“, 1982 produziert von Stephen Spielberg, erwacht eine Clownspuppe zum Leben und versucht den kleinen Jungen einer Vorstadtfamilie unters Bett zu ziehen. Vier Jahre später erschuf Stephen King die Figur des Pennywise für seinen Roman „Es“.

Stephen-Kings-EsDas Dunkle im Clown wandelte sich zur Chiffre für das Abgründige: In den grotesken Clownsbildern von Cindy Sherman, in unzähligen Filmszenen, in denen Bankräuber Clownsmasken tragen, als übellauniger, kraftmeiernder Krusty in der TV-Serie „Die Simpsons“. Mit weißem Gesicht und rot verschmiertem Mund mutierte der Joker, zuletzt 2008 verkörpert von Heath Ledger in der Batman-Verfilmung „The Dark Knight“, zum größten Kinoschurken aller Zeiten.

Rentner Ronald

Unterdessen ist aus Ronald McDonald der Hauptangeklagte für Übergewicht und Fehlernährung von Kindern weltweit geworden. Er wurde als Galionsfigur einer Globalisierung mit falschem Lächeln identifiziert. Immer öfter werden Ronald-Statuen vor Schnellrestaurants umgeworfen. 2004 entwarf der Street-Art-Künstler Banksy ein Graffito, auf dem Ronald McDonald und Micky Maus gemeinsam ein traumatisiertes, nacktes vietnamesisches Mädchen an den Händen halten.

Der Clown ist zu einem der beliebtesten Ziele der Adbusters-Bewegung geworden, der Kommunikationsguerilla, die Werbung verfremdet, einem Vorläufer von Occupy Wallstreet. Nach dem US-Einmarsch in den Irak kursierte eine Postkarte mit einem rotmundigen George W. Bush, darunter stand „Ronald McMurderer“.

Eigentlich ist das Maskottchen nun verbrannt. Um Kinder zu locken, hat McDonald’s mit dem „Happy Meal“ schon längst eine andere Strategie entwickelt. Obwohl US-Elterninitiativen schon seit Langem fordern, den Clown in Rente zu schicken, kann sich der Konzern nicht offiziell von ihm trennen. Faktisch aber ist der „Botschafter für einen aktiven, ausgeglichenen Lebensstil“, wie er inzwischen heißt, in Altersteilzeit. Zwar geistert er noch in Ronald-McDonald-Häusern und in Eltern-Kind-Einrichtungen herum, aus den Restaurants jedoch ist er weitgehend verschwunden.

Fotos: Rochelle Hartmann | CCjoiseyshowaa |CC, Wikipedia

Da ist alles mächtig

Grapefruit, Erdbeere und ein leichter Hauch Nelke: der reif-fruchtige Geruch steigt einem schon in die Nase, wenn man die Flasche öffnet. Vielversprechend. Dieses Bier ist eine Geschmacksbombe.

holyshitEs stammt von Thorsten Schoppe, der seit 2001 in Kreuzberg braut und nie um ein Experiment verlegen ist, Reinheitsgebot hin oder her. Sei es, Roggenbier zu brauen oder Gewürze oder Früchte dem Sud zusetzen: Schoppe gehört zu den festen Säulen der Berliner Craftbeer-Szene, die sich in der jüngsten Zeit zu einer der größten und lebendigsten in Deutschland entwickelt hat.

Holy Shit heißt das Double IPA. Und die Wahrscheinlichkeit, dass man „heilige Scheiße“ ausruft, wenn man diese Bier das erste Mal probiert, ist gar nicht so gering. Bei einer Expertenverkostung auf dem Berliner Braufest im September war sich eine Experten-Jura einig: das beste Bier der Konkurrenz.

Nicht nur Geruch, alles ist mächtig an diesem Bier. Etwa die Schaumentwicklung: Vorsichtiges Einschenken empfiehlt sich. Das ist völlig ausreichend, um eine daumenbreite, weiße Krone zu erreichen, die fest wie geschlagenes Eiweiß auf dem dunkel bernsteinfarbenen Bier sitzt.

Die süß-fruchtigen Aromen setzen sich auf der Zunge fort, die Kohlensäure schmilzt auf der Zunge und macht das Holy Shit cremig. Ein echter Hammer ist aber der Abgang: Kratzig und leicht rauchig, mit einer Spur Rizinus verabschieden sich die zehn Prozent Alkohol am Gaumen. Das wirkt fast wie ein guter Schluck Whiskey.

Das Holy Shit ist daher nichts für Jedermann. Wer Zigarren oder einem schweren Rotwein viel abgewinnen kann, wird auch dieses Bier mögen. Zum rheinischem Sauerbraten oder einem scharfen Chili con Carne aber ist es auch ein perfekter Begleiter.

Holy Shit Ale, Schoppe Bräu, Alkohol 10 % Vol.

Abseits der Natur

Jetzt also hässliches Gemüse. Man darf sich darüber freuen, 40 Prozent der Ernte sind im Obst- und Gemüsebau Ausschuss, weil verwachsen, krumm und schief, nicht ansehnlich genug. Bisher fast unverkäuflich. Landwirte pflügen die mangelhafte Ernte wieder unter, verkaufen sie an die Saftindustrie oder verarbeiten sie zu Tierfutter. Dieses Gemüse soll nun in Supermärkten eine Exotennische bekommen. Das sei eine „Herzensangelegenheit“ heißt es bei Edeka, ganz entsprechend dem Motto „Wir lieben Lebensmittel“. Vor allem ist es aber eine gute Geschäftsidee. Gemüse, das bisher wegen seines Wildwuches gar keinen Weg auf den Markt fand, nun genau deswegen ein bisschen teurer zu verkaufen als Einheitsgemüse: Die Überlegung verspricht Gewinn. Für Landwirte wie den Handel. Wenn der Verbraucher mitmacht.

Und dafür spricht viel. Die Abschaffung der europäischen Krümmungsnorm für Salatgurken hat nicht geholfen, die Skepsis gegenüber Obst und Gemüse zu verringern. Im Gegenteil. Tomaten, die sich Wochen im Kühlschrank halten, Paprika, die auf Steinwolle wächst, Mangos, Bananen, Ananas, die grün geerntet werden und bei der Fahrt übers Meer in Spezialcontainern ausreifen müssen: All das hat den allgemeinen Verdacht der „Unnatürlichkeit“ verstärkt.

Wenn man sich ansieht, wie Obst und Gemüse im Supermarkt ausgestellt sind, gleich am Eingang und meist in einer holzverschalten Umgebung, die Markthallen-Ambiente ausstrahlt, kann man sich vorstellen, wie wichtig das vegetarische Angebot für den Einzelhandel ist. Es hat Leuchtturmfunktion. Der Kunde soll auf den ersten Metern gesund einkaufen und möglichst natürlich, nur um dahinter umso mehr zu sündigen. Lässt ihn aber schon Obst und Gemüse vorsichtig werden, dann wird er noch weiteren Abstand zur Fleischtheke halten.

War aber je natürlich, was in den Obst- und Gemüsekisten lag? Die Frage muss gestellt werden, Authentizität hat sich im Lebensmittelbereich zum Verkaufsargument schlechthin gemausert. Alte Mühlen auf eingeschweißter Wurst, das Stichwort „regional“ allerorten, die Werbung mit dem „traditionellen Rezept“, jetzt das verwachsene Gemüse: Alles ist recht, an eine gute alte Zeit der Unverfälschtheit zu erinnern, in der die Nahrungswelt noch irgendwie in Ordnung war.

War aber überhaupt je natürlich, was da in den Obst- und Gemüsekisten auf den Kunden wartet? Diese Frage muss gestellt werden, Authentizität hat sich nämlich im Lebensmittelbereich – und nicht nur dort – zum Verkaufsargument schlechthin gemausert. Alte Mühlen auf eingeschweißter Wurst, das Stichwort „regional“ allerorten, die Werbung mit dem „traditionellen Rezept“, nun verwachsenes Gemüse: Jede mögliche Phantasie ist recht, an eine gute, alte Zeit der Unverfälschtheit zu erinnern, in der die Nahrungswelt noch irgendwie in Ordnung war. Das lässt schneller zugreifen.

Es ist eigentlich ein durchsichtiges Spiel, dieses ständige Versprechen eines Essens wie früher, wie bei Oma. Die heile Nahrungswelt hat es nie gegeben. Denn wir vergessen nur zu gern, dass es sich bei diesen Großmüttern um eine Generation handelt, die das Aufkommen von Dosenobst, Maggi-Würfel und und Pfanni-Knödel so begeistert in ihre Küche aufnahm. Wollen wir einfach nur zurück in die naiven Anfangsjahre der industriellen Lebensmittelrevolution?

Natur, das waren Obst und Gemüse nie. Und Bauern und Gärtner selten deren Bewahrer, viel öfter Gegenspieler. Schon lange bevor es Gentechnik gab. Sie züchteten aus einer kleinen unscheinbaren Knolle eine nahrhafte Stärkebombe, die Kartoffel, und aus hohem Wildgras kurzen Weizen mit schweren Ähren. Solche Kulturpflanzen werden heute von Agrarhistorikern gern als clevere Kulturfolger beschrieben, die sich intelligent an die Bedürfnisse von Homo Sapiens angepasst haben, um ihr Überleben zu sichern.

Aber man kann es auch so sehen, dass der Mensch sie in einen mephistofelischen Pakt gezwungen hat: Verändert Eure Natur nach meinen Bedarf, und Unsterblichkeit ist Euch sicher. Und es sind die moralischeren von uns Mephistos, die klagen, wenn die ein oder andere Sorte dieser Kreaturen sich dann doch nicht so anpassungsfähig beweist.

Natur, Ursprünglichkeit, Authentizität: Das sind, wenn man Lebensmittel betrachtet, die absolut falschen Kategorien. Sie verstellen den Blick. Auch die dick mit Erde verkrustete Linda-Kartoffel im Bioladen ist nicht natürlicher als eine geputzte Allerweltssieglinde im konventionellen Supermarkt. Beide sind vor allem nur ein Produkt menschlicher Kultur. Also auch ein Objekt von Moden und Trends. Da es um Kultur geht, darf und muss man über ihre Gestalt streiten und den Geschmack. Aber auch, wenn wir überleben wollen, wie diese Kultur dem Menschen am meisten nützt und – Achtung – der Natur am wenigsten schadet. Es geht um Ästhetik, und die Endung Ethik sollte darin groß geschrieben sein.

All der warenförmige Anschein von alter Ursprünglichkeit, der ganze Rückgriff auf die Natur verhindert so eine Diskussion. Denn was, wenn Neues zum Einsatz kommt, mit dem Altes erst gerettet werden kann? Ein Beispiel: In Holland entstehen gerade hochmoderne Gewächshäuser, beheizt werden sie mit Erdwärme und der Restenergie aus Kraft-Wärme-Kopplung. Gegossen werden die Pflanzen darin kontrolliert mit auf den Dächern gesammelten Regenwasser. Der Wasserverbrauch beträgt ein Bruchteil dessen im Freilandbaus. Nutzinsekte ersetzen Pestizide. Es sind hocheffiziente High-Tech-Anlagen, auf Nachhaltigkeit und möglichst wenig Ressourcenverbrauch ausgelegt. Nur hier, abseits der Natur, können manche der schädlingsanfälligen alten Sorten wiederbelebt werden. Oder Bio-Tomaten so billig wachsen – und auch reifen, dass man sie im Discounter verkaufen kann.

Gemüse aus Agroparks, schmackhaft, biologisch, aber mit CO2 aus Heizkraftwerken gefüttert; Organisches Obst aus urbanen Gärten, lokal angebaut: Das sind derzeit die vielversprechendsten Perspektiven, um wachsende Städte in Zukunft ressourcenschonend zu ernähren. Dafür werden die Grenzen zwischen Stadt und Land fallen müssen. Dabei hilft nicht, wenn Natur zu einem immer größeren Sehnsuchtsort ausgebaut wird.

Von modernen Glashäusern erfahren wir wenig. Warum wollen wir es nicht? Und wie weit darf die Gestalt von Lebensmitteln sich verändern, wenn sich ihr Anbau verändert? In Japan gelten quadratische Kürbisse als Delikatesse. Sie wachsen eng aneinandergereiht in eckigen Gläsern: Das spart Platz. Sind wir für eine solche Ästhetik bereit?

Erstmal kommt das wunderlich aussehende Gemüse in die Regale. Es ist nur eine Laune der Natur, die es missraten hat lassen, aber weder biologischer, regionaler oder fairer angebaut. Solange man bei Edeka und Co. nicht erfährt, welche Gemüse es sind, das dort geliebt wird, dann doch lieber wieder ab unter die Erde mit den Homunkuli.

Foto: mandymooo | CC
Dieser Text ist in einer kürzeren Fassung in der taz vom 22. Oktober 2013 erschienen.

Pfeffriges Waldgold

Es gab eine Zeit, da habe ich mich gewundert, warum etwas keinen Pfifferling wert sein soll. Ich benutze ausdrücklich die Vergangenheitsform, weil sich die Frage nicht mehr so dringend stellt. Die kulinarische Metapher ist der Alltagssprache fremd geworden. Man sagt heute nicht mehr, dass mit jemand nicht gut Kirschen essen ist, man lässt auch nichts mehr auf kleiner Flamme kochen, sondern versucht eher, den Ball flach zu halten. Und den Braten riecht auch niemand mehr, dafür aber zehn Meter gegen den Wind, wenn etwas faul ist. Man kann das für schade halten, es sagt aber auch etwas über unsere Beziehung zu Lebensmitteln aus.

pfifferlinge
Reherl, Eierschwammerl, Chanterelle oder einfach: Pfifferling

Was es mit dem Pfifferling auf sich hat, ist jedenfalls umstritten. Es gab eine Zeit, in der dieser Pilz in deutschen Wäldern so stark verbreitet und leicht zu sammeln war, dass er den Menschen ziemlich wertlos vorkam. Das könnte der Ursprung sein. Genauso wahrscheinlich ist aber, dass der Pfifferling in der Redewendung aus dem „Fünferle“ oder „Fifferle“ entstanden ist, wie man im süddeutschen Raum einst das Fünf-Pfennig-Stück bezeichnete. Keine Ahnung, was stimmt.

Der Pfifferling jedenfalls ist mir einiges wert. Er fällt mir als Erstes ein, wenn ich an Pilze denke. Und nicht etwa Champignons, diese wie normiert aussehenden Gewächse, die heutzutage vor allem in ehemaligen Bunkern und U-Bahn-Röhren vorkommen. Pfifferlinge lassen sich nicht züchten, sie sind das Waldgold, wenn sie eidotterfarben und wie Frühjahrsblumen den Boden unter den Bäumen sprengseln. In Osteuropa oder auch in Skandinavien lässt sich das noch beobachten.

Und zu ihrer Wildheit gehört auch, dass sie es dem Koch nicht ganz so leicht machen. Denn während es kaum Aufwand ist, Champignons, Steinpilze oder auch Seitlinge zu putzen, meist reicht es, die wenigen Stückchen Erde mit Küchenpapier abzuwischen, stellen sich Pfifferlinge an. Da klemmen noch Fichtennadeln zwischen den feinen Lamellen, und der Grind setzt sich vorzugsweise in den Tiefen der Schirme ab, dort, wo kein Fingernagel hinkommt und auch kein Pinsel, der so dick wäre, dass er etwas ausrichten könnte. Man würde es gerne, aber Pilze zu waschen, das ist verboten. Total verboten. Warum, lernt man spätestens, wenn Pilze in der Pfanne liegen und das Wasser, das sie aufgesogen haben, wieder abgeben. Nicht von ungefähr nennt der Bayer sie Schwammerl. Ich habe dem Verbot nur einmal zuwidergehandelt und beobachten müssen, wie Pilze sich in matschige Gestalten verwandelten, die schmeckten wie aus der Dose.

Bei Pfifferlingen allerdings gibt es eine Ausnahme. Sie lassen sich waschen, aber unter einer Bedingung. Man rührt ein, zwei Esslöffel Mehl ins Wasser, kurz bevor man die Pilze hinzugibt. Das Mehl wirkt erstens wie Schmirgelpapier und scheint zweitens, die feinen Poren der Pfifferlinge zu verstopfen. Sie saugen sich nicht so stark voll. Trotzdem sollte das Bad möglichst kurz sein. Ich wirbele die Pilze nur ein paar Sekunden durchs Wasser und habe vorher schon die sauberen Exemplare aussortiert. Der Trick funktioniert. Nur sollte man die Pilze vorher nicht geschnitten haben. Gegen den Schwammeffekt ist auch das Mehl hilflos.

So zart man die Pilze vorher behandeln sollte, am Herd ist es mit der Vorsicht vorbei. Ich brate Pfifferlinge in einer knallheißen Pfanne an, bis sie braun sind und knackig. Es ist dabei ganz egal, ob ich sie für ein Risotto vorgesehen habe, eine Pilzsauce oder ob sie nur in ein Omelette geklappt werden sollen. Die leichte Pfeffrigkeit, die ihnen den Namen gegeben hat, kommt so am besten raus. Dann fragt man sich doch, ob tatsächlich nie jemand ein Königreich für ein paar Pfifferlinge eingetauscht hat.

Foto: trupastilla