Gnade dem Chlorhuhn

chlorhuhn

Haben Sie auch Angst vor dem Chlorhuhn? Diesem Monster, das im Zuge von TTIP die Einreise nach Europa erlaubt bekäme. Es ist das Übersymbol aller Freihandelsgegner und inzwischen gemästet mit allem, was man zu Recht gegen das Abkommen mit den USA haben kann. Aber haben Sie schon mal eins gegessen? Als ich diese Frage vor kurzem in einer Diskussion gestellt habe, ganz naiv, bekam ich als Reaktion ausschließlich sprachlose, empörte Gesichter. Ein nackter Broiler, abgewaschen mit einer Brühe aus Chlordioxid – es ist, als könnte allein der Gedanke daran, in eine gebratene Chlorhühnerkeule zu beißen, Gesundheitsschäden hervorrufen. Ich will nicht sagen, dass der Vogel das falsche Symbol ist. Aber es ist an der Zeit, diesem schön gruseligen Maskottchen der Anti-TTIP-Gemeinde ein paar Federn zu rupfen.

Vom Chlorhuhn wird geredet wie von einer invasiven Art. Als ob es sich um eine ähnliche Spezies handeln würde wie Kartoffelkäfer, Reblaus, pazifische Auster oder Wollhandkrabbe. Alles Eindringlinge, die, einmal in Europa angelangt, ein verheerendes Eigenleben entwickelt haben. Der bösartigste Migrant war übrigens der Kartoffelkäfer. Er war der Hauptschuldige für die Hungersnot in Irland Mitte des 19. Jahrhunderts.

Damals wurde auf der gälischen Insel kaum etwas anderes angebaut als Kartoffeln. Das Chlorhuhn allerdings wird tot sein, wenn es nach Europa kommt. Es legt keine Eier mehr und kann sich nicht mehr vermehren. Und sehr wahrscheinlich wird man als Verbraucher die Wahl haben zwischen einem Vogel aus Massentierhaltung, turbogemästet und mit Antibiotika vollgestopft, und einem Vogel aus Massentierhaltung, turbogemästet und mit Antibiotika vollgestopft, der kurz mit Chlorlauge abgeduscht wurde. Man kann davon ausgehen: Die Aufkleber „garantiert chlorfrei“ hat die europäische Geflügelzüchterbranche bereits für ihre Packungen gedruckt.

Aber ist das wirklich ein Unterschied? Im Grunde ist das Chlorhuhn nur der Ausdruck eines Kulturunterschieds in der Lebensmittelhygiene. Sein Pendant in Übersee ist der Rohmilchkäse. Den fürchten US-Amerikaner so wie Europäer den Chemiekadaver. Nichtpasteurisierte Milch: Nur ihr Einsatz gestattet es, dass beim Käsen eine Vielzahl von Pilzen und Bakterien angeregt werden. Wenn man es sich genau ansieht, ist das sicher auch für viele Europäer eine ekelerregende Vorstellung. Die sogenannte Lebensmittelsicherheit: Die versucht die europäische Politik vor allem nach dem Farm-to-Table-Prinzip herzustellen. Was größtmögliche Rückverfolgbarkeit aller Zutaten bedeutet: Wenn was schiefgeht, ist der Schuldige schnell gefunden, lautet die Idee.

In Amerika dagegen zählt mehr das Resultat. Also wird das Fleisch von Tieren, die unter großer Bedrängnis in ihren Exkrementen aufwachsen, eben desinfiziert, um Salmonellen und Kolibakterien oder andere Erreger abzutöten. Und das nicht nur beim Hühnerfleisch. Brüssel hat bereits 2013 erlaubt, dass Rindfleisch nach dem Schlachten mit Milchsäure gewaschen wird, so wie es in den USA Standard ist. Denn die hiesige Rindfleischindustrie will endlich auch wieder nach Übersee exportieren.

Wer gegen das Chlorhuhn argumentiert, setzt sich zuallererst für europäische Hygienestandards ein. Es sind aber ebenfalls Standards einer Nahrungsmittelindustrie. Und falls Sie fragen: Natürlich habe ich schon Chlorhuhn gegessen. Ich bin nicht krank geworden. Es schmeckte genauso fad und geschmacklos wie ein europäisches Huhn.

Foto: frankieleon | CC

Der Löffel macht den Menschen

Neulich waren wir zu einer Taufe eingeladen, und da kam natürlich die Frage auf: Was schenkt man so einem Neugeborenen eigentlich? Einen Strampler, eine Rassel oder einen Teddybär? Alles Quatsch, sagte ich, wir schenken einen Löffel. Was meine Lieblingsesserin wieder zu einem ihrer meistgebrauchten Kommentare reizte: Du denkst doch immer nur an das eine. Womit sie ins Schwarze getroffen hatte. Aber was wie die seltsame Idee eines Kochs wirkt, ist ein guter alter Brauch. Erinnert sich überhaupt noch jemand daran? Ich habe selbst auch so einen Tauflöffel, fiel mir anhand der folgenden kleinen Diskussion ein, die sich mittlerweile zuspitzt hatte auf die Frage: Löffel oder Mobile? Und mir fiel ein, dass auf dem Griff ein Uhrblatt und ein komischer kleiner Junge eingeprägt waren.

Was hat den Löffel zu so einem wichtigen Geschenk gemacht? Man muss ziemlich weit zurückgehen, um das zu erklären, zurück bis ins Mittelalter. Es war eine Zeit, in der das einfache Volk, Leibeigene, Söldner und Tagelöhner, wenig mehr besaßen als eben ihre Löffel; meist wurden sie ja selbst als Eigentum irgendeines Herzogs oder Bischofs begriffen. Das ist übrigens auch die Erklärung für den bis heute verwendeten Spruch, dass jemand, wenn er gestorben ist, den Löffel abgegeben hat. Tatsächlich wurde er oft feierlich dem ältesten Sohn überreicht, hat mir einmal ein Mittelalterforscher erzählt. Man kann also durchaus sagen, es gab Zeiten, da war ein kleines Besteckteil der einzige Ausweis von Individualität, da hat ein Löffel den Menschen gemacht. Und das galt keineswegs nur für Habenichtse.

Es gab auch Menschen, die wurden mit dem goldenen Löffel im Mund geboren. Er ist nicht mehr als die Kopie und gleichzeitig die Verlängerung der hohlen Hand: Angesichts heutiger mitdenkender Apparaturen kommt einem der Löffel ziemlich trivial vor. Und doch muss er ein Urwerkzeug sein, und er ist ganz sicher der König des Tischgedecks. Der Gabelspieß und die trennende Messerklinge sind in der Form schon angelegt. Und bei näherer Betrachtung und nun auch mal etwas kulinarischer gesprochen: Würde es sich nicht lohnen, auf das Besteck etwas mehr Aufmerksamkeit zu verwenden? Wie es unseren Geschmack beeinflusst und unsere Art zu essen. Was auf den Teller kommt, ist auf der ganzen Welt mindestens so besteck- wie mundgerecht. Ein dickes Steak und Stäbchen passen einfach nicht zusammen.

Ich habe große Sympathie für das asiatische Esswerkzeug, aber dem Konzept Messer, Gabel, Löffel kann ich ebenso viel abgewinnen. Es ist die Verlängerung des Kochens an den Esstisch. Jeder kann sich die ihm passenden Stücke zurechtschneiden und auf der Gabel unterschiedlich kombinieren. Ich sehe das als letzten Akt der Zubereitung. Und zugleich als Würdigung für das, was auf dem Teller liegt. Ich kann mich einfach nicht an Menschen gewöhnen, die im Restaurant Striche auf dem Porzellan ziehen, um die Beilagen dann einzeln und nacheinander zu essen. Und je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr verstehe ich, warum ich mir manchmal mit einem Wrap, einem Burrito oder auch einer Leberkäsesemmel in der Hand in der Imbissbude vorkomme wie in der Sicherheitsschleuse eines Flughafens. Aus Mangel an Besteck kann man sich recht paternalisiert fühlen.

Ach, es wäre doch ein interessanter Versuch, mal Messer und Gabel in eine Burger-Filiale mitzubringen. Und noch aufschlussreicher vielleicht, einen Teller Nudeln mit den Fingern zu essen. Was verändert sich an dem Gericht, wenn man die Tomatensoße auch noch von den Fingern lecken muss? Wir brachten zur Taufe dann übrigens kein Besteck, sondern doch ein Mobile mit. Von meinen Löffelphilosophien werde ich dem Kind irgendwann erzählen.

Foto: Nicki Mannix | CC

Laue Glut

Geht’s noch? Es ist gerade Ende März, und ich will schon übers Grillen reden. Ja, das müssen wir. Denn mittlerweile erobern Grillfleisch und Würstchen die Frischetheken, sowie die ersten Krokusse aus den Wiesen sprießen. Als ob man den Sommer herbeirösten könnte.

Grillen ist längst dabei, zum Ganzjahresgeschäft gemacht zu werden. Wintergrillen, das war über die vorigen Monate ein Thema, über das man wieder und wieder lesen konnte. Mit idyllischen Fotos – von harten Kerls, die in tief verschneiter Winterlandschaft den Grill umringen, meist vor einem tiefblauen Alpenhimmel. An den Aufnahmen ist bemerkenswert: Sie zeigen Menschen, die in der Kälte näher um die Glut zusammenrücken, als es irgendjemand an einem warmen Sommerabend wagen würde. Da kann der Grill buchstäblich als Herzstück gesellschaftlichen Zusammenseins inszeniert werden, ganz nach dem Motto: „Wir essen gleich vom Rost. Sonst kühlt das Fleisch zu schnell aus.“

Ja, überhaupt kann man zu dem Schluss kommen, im Winter geht es beim Grillen um den Kern. Nämlich ums Fleisch. Leichte Salate mit fruchtiger Vinaigrette, davon etwa empfehlen viele Autoren Abstand zu nehmen. Wer beißt schon gern in halbgefrorene Tomaten? Nein, wenn Minusgrade herrschen, muss einfach alles aus der Hitze kommen. Da ist das Tierische noch mehr Trumpf.

Aber genug. Die Tage werden lauer und die Aussichten besser, dass man nicht mit triefender Nase in der aufgeweichten Erde herumstampft, während man in der Nasskälte darauf wartet, dass die Kohle auf Betriebstemperatur kommt. Deshalb will ich von einem anderen Trend berichten, der gar nicht zum Bild der harten Kerls am Feuer passt. So langsam wird mit einer Gewohnheit gebrochen, die besagte: Je länger es dauert, bis die Kohle glüht, umso kürzer bleibt das Fleisch auf dem Rost. Am Grill ist eine neue Zeit der Zärtlichkeit ausgebrochen.

Denn auch bis hierhin hat sich die Kunde getragen, dass es mit Fleisch und hohen Temperaturen so eine Sache ist. Dass scharfes Anbraten in der Pfanne irgendwelche Poren schließen würde, hat sich als Mär erwiesen. Fleisch schmeckt am besten, wenn es sanft und mit Geduld auf den Garpunkt gebracht wird. Und der ist gar nicht so hoch. 56 Grad bei einem Rinderfilet, etwa 70 Grad bei einem Hühnchen. Das Sous-Vide- oder Niedriggar-Verfahren ist deshalb für immer weniger Menschen ein Fremdwort (und für meine Leser, hoffe ich, erst recht nicht). Man muss dafür nicht gleich Fleisch vakuumieren und ins Wasserbad hängen. Ein Steak nach dem Anbraten im aufgewärmten Ofen ruhen zu lassen, folgt der gleichen Erkenntnis.

Auch über offener Glut lässt sich das anstellen. Man nennt das indirektes Grillen. Es ist ein Verfahren, das dem Backen im Grunde viel ähnlicher ist als dem Braten. Das Fleisch braucht dafür Abstand von der Hitze. Die Kohle wird deshalb im Grill auf die Seiten geräumt, und damit die Hitze sich auch lang entfalten kann, wird zusätzlich noch ein Deckel eingesetzt.

Haben Sie vielleicht auch einen Kugelgrill? Für viele Leute sind sie so praktisch, weil diese runden Hauben den Apparat je nach Jahreszeit vor Regen, Schnee und Rost schützen. Oder einfach so schön das schnaufende, ranzige Innere des Grills verbergen, wenn die Mahlzeit auf dem Teller liegt. Die Deckel sind aber vor allem kulinarisch zweckmäßig. Unter ihnen lassen sich dicke Steaks, ganze Hühnchen und sogar Fisch zubereiten, ohne Gefahr zu laufen, dass die Stücke außen schwarz werden und innen roh bleiben. Sogar Pizza, Brot oder Kuchen lassen sich so wie in einem Backofen zubereiten.

Man sollte eben nur mit der Glut geizen. Deshalb passt die neue Art des Grillens auch nicht wirklich zum Winter. Aber wie gesagt: Die Tage werden jetzt ohnehin lauer.

Foto: James Offer | CC

Liebeslied an einen Herd

Ich melde mich aus den Flitterwochen. Entschuldigen Sie also meinen Überschwang. Aber es kam alles ganz unverhofft. War sozusagen Liebe auf die erste Flamme. Und meine Lieblingsesserin war einverstanden, dass ich die folgende kleine Serenade aufsetze. „Vielleicht“, sagte sie, „lässt Du mich dann in Ruhe.“

Sie hat Recht. Ständig rufe ich sie an den Herd, auch nur, um in den Topf zu schauen, in dem ich Zwiebelwürfel anschwitze. „Da braten Zwiebeln“, sagt sie verständnislos. Und ich – noch verständnisloser: „Aber guck mal, wie das Fett spritzt, wie die Würfel tanzen, schon seit fünf Minuten. Und da wird nichts schwarz. Irre, oder?“ Während ich den Risotto zur Vollendung bringe, telefoniert sie mit einer Freundin. Sie sagt: „Er wird wahnsinnig: Er lässt gerade Zwiebeln tanzen.“

Es war nur eine Laune, warum ich mich von meinem alten Herd verabschiedet habe. Fast zwanzig Jahre war er alt, und wir beide sind noch gut miteinander ausgekommen. Ich stehe ohnehin auf dem Standpunkt, dass in der Küche technische Geräte nur so gut sind, wie die, die sie bedienen. Früher oder später entwickeln alle ihre Eigenheiten. Für jedes neue Instrument muss man abwägen: Lieber die vertrauten Macken oder eventuell neue Spleens.

Mein Ofen war schon ein alter Herr namens Bauknecht, nicht mehr der schnellste und jede Anstrengung war ihm anzumerken. Nach einer halben Stunde Vorheizzeit auf höchster Stufe inklusive Grill hatte sich die Nadel auf dem Ofenthermometer langsam zum 200-Grad-Strich vorgezittert. Pfannen setzte ich besser vor dem Gemüseschneiden aufs Kochfeld. Und bei Schmorgerichten hatten wir immer Streit. Herr Bauknecht verstand einfach nicht, dass die Rinderbrust bei genau 120 Grad für acht Stunden im Ofen zu sein hatte. Er gab ständig mehr Stoff.

„Early induction hob cooker (Rankin Kennedy, Electrical Installations, Vol II, 1909)“ von Andy Dingley (scanner) - Scan from Kennedy, Rankin (1909 edition) Electrical Installations, vol. II, London: Caxton. Lizenziert unter Gemeinfrei über Wikimedia CommonsDu hast dich sicher für Gas entschieden, sagen nun viele Leute. Und schütteln die Köpfe, weil nun ein Induktionsherd in der Küche steht. Neumodisches Zeugs? Keineswegs. Die frühesten Patente für diese Technologie wurden bereits um 1900 angemeldet. Die ersten Haushaltsgeräte dann in den 70ern produziert. Vorher wurde Induktion in der Industrie eingesetzt, etwa um Metalle zu schmelzen.

Die Funktionsweise klingt ein bisschen wie Voodoo: In einer großen Kupferspule unter der Herdplatte wird ein elektromagnetisches Wechselfeld aufgebaut. Steht darüber ein Topf, der magnetisch ist, wird Hitze direkt in den Topfboden induziert. Man kann sogar Papier dazwischenlegen. Und ein Aluminiumtopf bleibt kalt. Das Schöne daran: Wie beim Gasherd  wird Energie sofort in Hitze umgesetzt. Wie, das lässt sich aber noch genauer und feiner regulieren. Das sollte mein Zwiebelversuch eigentlich zeigen.

Induktionsherde haben nur zwei Nachteile. Meist muss man auch neue Töpfe mit magnetischem Stahlboden zulegen. Und die Herde kommen neuerdings oft mit Touchpad-Funktion. Wie beim Smartphone soll man für die Bedienung über das Ceranfeld wischen und irgendwelche virtuellen Knöpfe drücken. Das funktioniert vielleicht noch im Geschäft, in der Küche, wenn wie bei mir die Finger sofort nass und fettig sind, selten. Ich habe schon erlebt, wie die besonnensten Köche unter hektischem Tippen auf solche Herdplatten einbrüllten, und daher lange nach einer Alternative gesucht. Die Ausstattung mit guten alten Knöpfen hat einen stolzen Preis.

Gerade bekommt mich kaum was vom Herd weg. Beispielsweise Rosenkohl kurz zu blanchieren, bevor er im Ofen, der übrigens ganz konventionell funktioniert, zu Ende backt: Das ist kein Akt mehr. Das Wasser kocht in Sekunden. Und ich liebe es, vor sich hin schmurgelnde Zwiebeln zu beobachten und den süßen Duft in mich einzusaugen. Macken? Manchmal bekomme ich Angst, wie perfekt dieser Herd funktioniert.

Foto: Ben O’Bryan | CC

Der Döner ist ein Berliner

Als begeisterter Esser kommt in Berlin eigentlich jeder auf seine Kosten. Und wird irgendwo ein neuer Trend ausgerufen, kann man sicher sein, spätestens nach einem halben Jahr probiert es damit jemand auch an der Spree. Es ist bestes Multikulti. Ich beispielsweise habe hier in den vergangenen zwei Wochen asiatische Burger gegessen, neue baskische Küche probiert und Hummus nach israelischem wie libanesischem Rezept kosten dürfen. Alles gute Küche: Im Hamburger war die Bulette durch Rindfleischfetzen ersetzt, die in Teriyaki-Sauce mariniert waren. Außerdem kam das Fleisch von Salzwiesenrindern an der Nordsee. Und beim Basken warb die Karte für Räucheraal aus der Ostsee. Ganz nah und ganz weit weg, das begegnet mir immer öfter in Berlin.

Nur einer hat damit ein Problem: der Genussführer der Slow-Food-Bewegung. Als er im vorigen Jahr erstmals erschien, war kein einziges Berliner Lokal darin verzeichnet. Das sorgte für Aufsehen, der Guide Michelin hatte fast gleichzeitig Sterne auf die Hauptstadt regnen lassen. Der Slow-Food-Führer war in Deutschland lang vermisst worden. Sein Vorbild – Osterie d’Italia – gibt es inzwischen seit über 20 Jahren. 1986 als Internationale des guten Geschmacks gegründet, brachte Slow Food 1990 erstmals ein schmales Bändchen heraus, in dem italienische Landgasthöfe vorgestellt wurden, die frisch und regional kochten. Es war als Alternative zu den Bewertungsbüchern mit ihrem Notensystem aus Hauben und Sternen konzipiert. Wertschätzung frischer Zutaten, Weiterführung lokaler Traditionen, gern bei moderaten Preisen – das war das Prinzip. Der Band revolutionierte Italiens Küche. Heute sind darin 17.000 Restaurants verzeichnet, bei jedem Erscheinen stürmt er die Bestsellerlisten. Nachahmer in anderen Ländern folgten.

Die deutsche Ausgabe empfiehlt 300 Gasthäuser, schwerpunktmäßig aus den ländlichen Regionen von Bayern, Franken, Baden und Württemberg. Städte kommen auch vor. Warum aber fehlt ausgerechnet Berlin? Passt Multikulti nicht ins Konzept? Mit Tradition sieht es in der Hauptstadt tatsächlich mau aus, sagen wir besser mit deutscher Tradition. Berlin, erst Stadt gewordene Kaserne für die preußischen Truppen, nach der Industrialisierung für die Arbeiterheere, musste in seiner Geschichte vor allem ernähren. Zu besserer Küche reichte es selten. Im Gedächtnis geblieben sind Berliner Weiße, Eisbein und Currywurst.

Aber was ist mit dem Döner? Der ist mindestens so deutsch wie türkisch, wenn man Chinesen fragt, sogar urdeutsch. Als Imbiss im Fladenbrot brach er in den 70er Jahren von Kreuzberg zu einer triumphalen Welttournee auf, wird aber bis heute an der Spree verortet. Gäste von außerhalb begleite ich regelmäßig gleich nach der Ankunft zur Dönerbude: All das, was es in München, Frankfurt oder Stuttgart gibt, sei doch nur ein Abklatsch, sagen sie mir. Also wenn das kein echter Berliner ist!

Das Problem: Der Döner ist selbst nur ein Abklatsch. Ein Symbol für gelungene Integration – so lange, bis man das erste Mal hinein beißt. Das Fladenbrot zieht einem den Saft aus dem Mund, die Tomaten sind geschmacklos, die Saucen zu fett. Über das Fleisch will ich gar nicht sprechen. Außer mit Gästen gibt es für Döner nur eine Gelegenheit: wenn der Alkohol im Blut einen vollen Magen verlangt. Quasi als vorgezogenes Katerfrühstück. Mit Genuss hat das nichts zu tun.

Nächste Woche erscheint der neue Genussführer, diesmal mit einem eigenen Berlin-Kapitel. Ich bin gespannt, was Slow Food als Berliner Regionalküche ansieht. Dass ein Dönerladen empfohlen wird? Da habe ich leider wenig Hoffnung.

Slow Food Genussführer Deutschland 2015, oekom verlag München, 448 Seiten, 19.95 EUR

Foto: Kai Hendry / CC

Apropos: Madame Mallory

Es gibt offenbar den absoluten Geschmack. Er spielt die Hauptrolle in dem Film Madame Mallory und der Duft von Curry, der gerade in den Kinos läuft. Die Handlung dreht sich um einen jungen Inder, den es mit seiner Familie in die französische Provinz verschlägt. Gegenüber einem Sternerestaurant eröffnet er dort mit viel Tschingderassassa ein Lokal: Maison Mumbai. Hassan, der seine ganze Kunst von der vor kurzem verstorbenen Mutter gelernt hat, kocht sich nach Widerständen erst in die Herzen der jüngeren und älteren Frauen vor Ort und dann in die der Haute Cuisine. Er besitzt die Gabe, jede Zutat aus einem Gericht herauslesen zu können.

Der Film startet wie ein feines französisches Clafoutis, ein einfacher Kirschauflauf, und endet als Götterspeisentorte – in knalligen Farben, zu süß, zu glibberig und irgendwie auch geschmacklos. Man hat das Gefühl, er versucht, europäischen Arthouse-Geschmack genauso zu befriedigen wie jenen des Bollywoodpublikums.

Das Thema ist trotzdem interessant. Immer wieder taucht es in Film oder Literatur auf. Die Mutter des Genres ist Patrick Süskinds Das Parfum, zuletzt beschäftigte sich Martin Suter 2010 in Der Koch und zwei Jahre später Lawrence Norfolk in Das Festmahl des John Saturnall mit dem perfekten Geschmack. Die Protagonisten sind alle derselbe Typ: junge unterprivilegierte „Wilde“, Jean-Baptiste Grenouille bei Süskind ein Kaspar Hauser, bei Suter der Tamile Maravan Vilasam, im Kino jetzt der Inder Hassan Kadam. Instinktköche, für die die Welt der Geschmäcker und Gerüche realer ist als das normale Leben.

Doch gibt es das tatsächlich, den absoluten Geschmack? Ich habe noch nie gehört, dass er einem Menschen nachgesagt wurde, keinem der Götter im kulinarischen Olymp, weder Paul Bocuse noch Auguste Escoffier und auch nicht Ferran Adrià, dem Molekularkoch. Musikern dagegen wird oft das absolute Gehör zugeschrieben, nicht nur Beethoven und Mozart. Auch in der Malerei gibt es die absolute Meisterschaft.

Aber warum nicht auch in der Küche? Wenn die Speisebereitung als Kunst zählen soll, dann muss auch diese große ästhetische Erzählung des Absoluten für sie stimmen. Eigenartig sind nur die Hauptfiguren, die sich die Erzähler dazu ausdenken. Immer müssen es die Naiven, Unzivilisierten sein, die in neue Dimensionen des Geschmacks vorstoßen. Solche Romantik erlauben sich meines Wissens andere Künste schon lang nicht mehr. Könnte es daran liegen, dass uns erst allmählich aufgeht, dass und welche Kunst Kochen ist?

Tatsächlich gibt es viel zu wenige Menschen, die sich um die Ästhetik des Essens ernsthaft Gedanken machen. Einer davon ist Peter Kubelka, der bis in die 90er Kunst und Kochen an der Städelschule in Frankfurt gelehrt hat. Ich bin ihm neulich begegnet und vermute, er würde über Madame Mallory schmunzeln – nicht nur, weil er ein verschmitzter 80-jähriger Wiener ist.

Kubelka stellt Kochen und Essen über alle anderen Kunstgattungen. Die Natur zu gestalten, zu transformieren und sich einzuverleiben, das hat aus seiner Sicht zuallererst aus dem „Menschentier“ den Menschen gemacht. Für ihn gehört das Essen zu den ersten ästhetischen Lebenserfahrungen. Zum Beweis steckte er sich vor mir eine Himbeere in den Mund und sagte: „Da braucht man keine Sprache, keine Führung oder irgendeinen Unterricht: Selbst ein Kind weiß sofort: Das schmeckt gut.“

Vielleicht könnte man es so interpretieren: Der Wohlgeschmack der Himbeere macht uns überhaupt erst empfindlich für die Ästhetik der anderen Künste. Das ist ein Plädoyer für Naivität, das mir viel sympathischer ist. Übrigens: Es gibt gerade noch Himbeeren. Stecken Sie sich mal eine in den Mund. Nur eine.

Foto: Constantin Film

Der furchtbare Paradiesapfel

Man meint, über viele Dinge sei alles erzählt. Zum Beispiel über die Tomate: ein Nachtschattengewächs, lateinisch Solanum lycopersicum, mit Kartoffel und Aubergine verwandt, ursprünglich in Südamerika beheimatet. Kennt man alles. Auch dass die Tomate einst Liebesapfel hieß oder Goldapfel, auf Italienisch bis heute pomodoro und in Österreich der Paradeiser.

Da ist im Namen die Verbindung zur verbotenen Frucht aus dem Garten Eden geschlagen. Man findet das öfter in der Kulturgeschichte von Obst und Gemüse. Auch Apfel, Birne, Quitte und Granatapfel, um nur einige Beispiele zu nennen, sollen Adam und Eva dem Volksglauben nach verführt haben. Ich habe das immer für einen frühzeitlichen Vermarktungstrick gehalten. Erzählt man vom Paradies, raunt man vielleicht noch von einer aphrodisischen Wirkung, ist der Absatz eines Gemüses garantiert.

Der Trick funktioniert noch immer – auf Fruchtgummiverpackungen. Mindestens bei der Tomate aber stimmt die Regel nicht. Die ursprüngliche Bezeichnung drückt keineswegs Liebe aus, so wie wir sie heute für das Gemüse haben. In Europa hatten viele Menschen über fast 200 Jahre Angst vor dem Gewächs. Die Tomate wurde aus ästhetischen Gründen angebaut, aber nicht zu kulinarischen Zwecken. Nur in Süditalien experimentierte man damit schon im 16. Jahrhundert in der Küche, hierzulande dauerte es bis zum späten 19. Jahrhundert, bis überhaupt die ersten Rezepte in Kochbüchern erschienen.

Kurioserweise stößt man auf dieses kleine Kapitel Geschichte, wenn man sich mit dem Tomatenanbau in Amerika befasst. Denn die nordeuropäischen Einwanderer nahmen die Vorbehalte nach Übersee mit und kultivierten sie dort sogar noch, wie der Kulturwissenschaftler Andrew F. Smith in The Tomato in America. Early History, Culture, and Cookery, der einzigen Monografie zum Thema, schreibt. Ursprung des Argwohns waren Geschichten von Adeligen, die an Tomaten gestorben waren. Der Grund: Der höhere Stand benutzte oft Zinnteller, und die Säure der Tomate löste das Blei darin, was zu Vergiftungen führte. Die Tomate galt ähnlich wie die Kartoffel fortan als Frucht einer giftigen Pflanze. Der eigentümliche, nicht unbedingt wohlriechende Geruch der Pflanze, der mir auch gerade in meinem Garten entgegenweht, unterstützte den Glauben noch. In den USA empfahlen Botaniker und Herbalisten deshalb, Tomaten nur anzupflanzen, um sich am Anblick der Früchte zu erfreuen und Ungeziefer fernzuhalten.

Aber es gab natürlich auch Insekten, die es auf die Pflanzen abgesehen hatten. In den USA übertrug sich die Furcht vor der Tomate auf die Raupe eines Nachtschwärmers, also eines Schmetterlings, der von Gärtnern bald Tomatenhornwurm genannt wurde. Über ihn wurden wahre Horrorgeschichten erzählt: Er sei giftig wie eine Klapperschlange und bewirke, dass die Pflanzen noch toxischer würden, schrieb etwa der berühmte US-amerikanische Naturphilosoph Ralph Waldo Emerson. Berichte von Exemplaren, lang wie eine Männerhand, die ihre Beute mit todbringendem Speichel bespritzten, nährten das Gärtnerlatein. Erst als Joseph Campbell die Tomatensuppe aus der Dose auf den Markt brachte, ließen sich die Amerikaner umstimmen. Doch glaubt man Smith, muss die Kostprobe für viele anfangs ein solches Abenteuer gewesen sein wie heute Sushi vom Kugelfisch.

Erst Ende des 19. Jahrhunderts begann sich die heutige Bezeichnung Tomate einzubürgern, abgeleitet von dem ursprünglichen aztekischen Wort xitomatl. Der exotische Begriff nahm den Menschen die Angst. Und der Siegeszug zum heute beliebtesten Gemüse der Menschheit begann.

Foto: grahammclellan | CC

Wie ich meinen ersten Salat tötete

Etwas Salz und Pfeffer, Öl, ein Spritzer Essig: Das einfachste Dressing, mehr kommt nicht an die grünen Blätter. Sie schmecken nussig, sind zart und knacken im Mund. Und das nach dreimal Waschen. Es gibt keinen Vergleich für diesen Genuss, absolut keinen. Vielleicht hätte ich den Essig weglassen sollen.

Aber warum soll ich schwärmen? Es gibt diesen Salat nicht zu kaufen, obwohl ich das wirklich jedem wünschen würde. Aber ich fürchte, über den Umweg an Großhändler und Laden vorbei würde die ganze Delikatesse ohnehin verloren gehen. Außerdem: Mehr als vier Köpfe gibt es nicht davon, das reicht gerade mal für einige kleine Abendessen im kleinen Kreis. Es tut mir deswegen wirklich leid, die meisten von Ihnen werden dieses Grün nie kosten. Aber ich verrate Ihnen trotzdem den Namen, nur für den unwahrscheinlichen Fall: Pankower Eichblatt. Er stammt aus meinem Garten.

Nacktschnecke by nomorecore/ flickr.com
Schnecken haben großen Appetit. Ich habe Angst, der färbt ab

Und den Genuss stört auch nicht, dass die Blätter hier und da schon einige große Löcher haben, da und dort auch leicht verfärbt sind. Es sind die Spuren einer schleimigen Fressattacke, des geballten Heißhungers von vier Nacktschnecken. Ich schwor mir, als ich das sah: Keine Schnecke ist mehr schneller. Das war das letzte Mal.

Es ist mir trotzdem schwergefallen, den fußballgroßen Kopf abzuschneiden. Was habe ich nicht alles dafür investiert: Zeit und Geld. Aus Körnchen habe ich unter Glasglocken Sämlinge gezogen, morgens und abends bekamen die ersten Sprossen pipettenweise Wasser getropft, damit die Dinger nicht knicken. Und gleichzeitig zimmerte ich hüfthohe Kisten, zog mir Spreißel und malträtierte meinen Rücken, nachdem ich sie mit Folie ausgekleidet und Schubkarren um Schubkarren mit Kompost und Erde hineingeschaufelt hatte.

Alles für die Zeit, wenn Salat, Zucchini, Kohlrabi und Gurken aus der Kinderstube kommen. Doch die Schnecken schafften es auch in die Hochbeete. Also habe ich immer nach dem Rechten gesehen und mir das beste Bier vom Munde abgespart, damit die Weichtiere in den Fallen zwischen den Pflänzchen ertrinken. Dass man regelmäßig gießen muss, versteht sich von selbst.

Glauben Sie mir, man kann ein Verhältnis zu ein paar grünen Blättern aufbauen, die man über Wochen gehegt, gepflegt, manchmal fast gestreichelt und gegen allerhand Nahrungskonkurrenz verteidigt hat. Ich habe heute kein Mitleid mehr mit Schnecken. Schon allein, weil ich beobachtet habe, mit welcher Gier sie sich auf tote Artgenossen schmeißen können, die von meiner Gartenschere zerteilt worden sind.

Aber als ich meinen ersten Salat erntete, da dachte ich kurzzeitig doch: Es ist Mord. Und dass ich hier eine Existenz zerstöre. Und an die Lücke im Grün, die sich nun auftut, das graubraune Fleckchen Erde, das nun nichts mehr zu nähren hat. Von schlechtem Gewissen zu sprechen wäre zu viel gesagt. Aber wenn man einen Kopf Salat, gefangen in sentimentalen Gedanken, in die Küche trägt, dann bekommen die appetitlichen Gedanken, die sich bei mir in kürzester Zeit von selbst einschalten, eine andere Qualität. Es ist die letzte Ehre, die man einem Lebensmittel erweisen kann, das man selbst abgeschnitten hat: Man steckt es sich mit ein bisschen mehr Achtung in den Mund.

Das geht so weit, dass man seine bisherigen Geschmacksbilder infrage stellt und das, was man bisher als Salatsoße an labberiges, eingeschweißtes Gemüse aus dem Supermarkt getan hat, auf einmal für überwürzt hält. Schmeckt der Salat anders oder schmecke ich anders, wenn ich ihn mit Gärtnerhänden esse, an einem Gartentisch, inmitten des ganzen Gemüses. Ich hoffe, beides ist richtig. Ich habe Angst, sonst wandelt sich mein Appetit am Ende noch zu dem einer Schnecke.

Foto: nomorecore | CC

Jetzt ist Essen Nebensache

Es mag Zufall sein, dass mir diese Woche an der Supermarktkasse besonders viele Kartons mit Tiefkühlpizzen aufgefallen sind. Und das nicht nur, weil sich noch eine Mutter mit einem ganzen Stapel Margheritas vor der Brust wie Pepe vor mich grätschte, als ich meine Einkäufe aufs Band legte. Ich hatte dann ein bisschen Zeit, mich umzusehen. Die meisten Kunden hatten tatsächlich Pizza und Chips in ihren Einkaufswagen. Es war keine Stunde mehr bis zum Anpfiff des Spiels Deutschland gegen Portugal.

Die WM hat begonnen. Und natürlich: Ich schaue Fußball, ich fiebere nicht nur mit einer Mannschaft mit. Aber wenn man ein guter Esser ist, dann bedeuten die Wochen bis zum 13. Juli, dem Tag des Endspiels, auch eine schwierige Strecke. Ich frage mich, ob ich hier deshalb etwas über Essen erzählen kann? Einen Bericht aus der kulinarischen Ödnis liefern? Ich werde an dieser Stelle nicht über Fingerfood schreiben. Ich habe auch keine Tipps für kulinarische Snacks. Und am allerwenigsten komme ich auf die Idee, etwas über brasilianische Küche zu erzählen. Die Deutschen wissen nichts darüber – und zu Recht. Das kann ich beurteilen, weil ich etwas mehr darüber weiß.

Aus den Supermarktregalen prasselt jedenfalls geballte Kompetenz auf mich ein. Da kann man sich zum Beispiel Kartoffelchips mit irgendeinem brasilianischen Fantasiegewürz besorgen, Hauptsache mit fruchtig-exotischer Note. Oder man kann zum deutschen Teamgeist greifen, geballt in Schokolade, Grillfleisch, Limo oder Bier. Nur eines vermisse ich in dem ganzen Angebot wirklich: Müsli, das als Gimmick noch schwarz-rot-goldene Außenspiegelsocken enthält. Warum ist darauf noch niemand gekommen? Für die eigene Kreativität überschlagen sich die Kochzeitschriften ebenfalls mit Vorschlägen zu Beilagen für einen gelungenen Fußballabend. Überall Rezepte für Tortilladips, Buletten à la Ipanema oder Copacabana-Spießchen. Ich aber mache da nicht mit.

Es ist doch so: Wenn es um Fußball geht, hat sich das Essen unterzuordnen. Selbst vor dem Anpfiff ist nie genug Zeit, noch in Ruhe zu essen, vor allem, wenn die Kohlen nicht rechtzeitig heiß geworden sind, aber schon die Hymnen aus dem Fernseher schallen. Die Vorfreude hat da längst ein anderes Ziel. Ich kenne viele Menschen, denen man zu diesem Zeitpunkt nicht nur halbrohe Würstchen in die Hand geben könnte, sie würden auch Plastik in sich reinstopfen. Die Augen sind ganz woanders.

Dass man beim Fernsehen nicht hinsehen muss, was man isst: Darauf vor allen Dingen kommt es bei TV-Nahrung im Allgemeinen und bei WM-TV-Nahrung im Besonderen an. Schön anzusehende Snacks braucht deshalb kein Mensch. Es zählt vielmehr der Klang, denn hören wollen die meisten offenbar schon, was sie da in den Mund nehmen, vielleicht ist es sogar angenehm, wenn vom Chipskrach im Mund Béla Réthy oder Steffen Simon übertönt werden. Wenn nicht, wird die Kiste einfach lauter gestellt. Und: Ob man isst und wie es einem schmeckt, hängt, wenn man vor dem Fußball sitzt, doch wirklich nicht von dem ab, was einem die Zunge bietet. Appetit bekommt man entweder weil das Spiel so spannend ist oder weil es langweilt.

Deshalb: Ich greife in diesen Wochen auch zu Junkfood. Ich benutze Fußballereignisse sogar, um Überbleibsel aus den Vorratskammern zu vernichten. Angebrochene Knäckebrotpackungen aus dem Vorjahr oder Pralinenmitbringsel: Kommt jetzt alles mal weg. Essen kann mit einem Fußballereignis ohnehin nicht konkurrieren. Diese Welten sind getrennt. Das eine ist Haupt-, das andere ist Nebensache. Und wenn die Nebensache mal Hauptsache wird, sollte man das akzeptieren. Es dauert ja nur vier Wochen.

Foto: coldpants | CC