Apropos: Madame Mallory

Es gibt offenbar den absoluten Geschmack. Er spielt die Hauptrolle in dem Film Madame Mallory und der Duft von Curry, der gerade in den Kinos läuft. Die Handlung dreht sich um einen jungen Inder, den es mit seiner Familie in die französische Provinz verschlägt. Gegenüber einem Sternerestaurant eröffnet er dort mit viel Tschingderassassa ein Lokal: Maison Mumbai. Hassan, der seine ganze Kunst von der vor kurzem verstorbenen Mutter gelernt hat, kocht sich nach Widerständen erst in die Herzen der jüngeren und älteren Frauen vor Ort und dann in die der Haute Cuisine. Er besitzt die Gabe, jede Zutat aus einem Gericht herauslesen zu können.

Der Film startet wie ein feines französisches Clafoutis, ein einfacher Kirschauflauf, und endet als Götterspeisentorte – in knalligen Farben, zu süß, zu glibberig und irgendwie auch geschmacklos. Man hat das Gefühl, er versucht, europäischen Arthouse-Geschmack genauso zu befriedigen wie jenen des Bollywoodpublikums.

Das Thema ist trotzdem interessant. Immer wieder taucht es in Film oder Literatur auf. Die Mutter des Genres ist Patrick Süskinds Das Parfum, zuletzt beschäftigte sich Martin Suter 2010 in Der Koch und zwei Jahre später Lawrence Norfolk in Das Festmahl des John Saturnall mit dem perfekten Geschmack. Die Protagonisten sind alle derselbe Typ: junge unterprivilegierte „Wilde“, Jean-Baptiste Grenouille bei Süskind ein Kaspar Hauser, bei Suter der Tamile Maravan Vilasam, im Kino jetzt der Inder Hassan Kadam. Instinktköche, für die die Welt der Geschmäcker und Gerüche realer ist als das normale Leben.

Doch gibt es das tatsächlich, den absoluten Geschmack? Ich habe noch nie gehört, dass er einem Menschen nachgesagt wurde, keinem der Götter im kulinarischen Olymp, weder Paul Bocuse noch Auguste Escoffier und auch nicht Ferran Adrià, dem Molekularkoch. Musikern dagegen wird oft das absolute Gehör zugeschrieben, nicht nur Beethoven und Mozart. Auch in der Malerei gibt es die absolute Meisterschaft.

Aber warum nicht auch in der Küche? Wenn die Speisebereitung als Kunst zählen soll, dann muss auch diese große ästhetische Erzählung des Absoluten für sie stimmen. Eigenartig sind nur die Hauptfiguren, die sich die Erzähler dazu ausdenken. Immer müssen es die Naiven, Unzivilisierten sein, die in neue Dimensionen des Geschmacks vorstoßen. Solche Romantik erlauben sich meines Wissens andere Künste schon lang nicht mehr. Könnte es daran liegen, dass uns erst allmählich aufgeht, dass und welche Kunst Kochen ist?

Tatsächlich gibt es viel zu wenige Menschen, die sich um die Ästhetik des Essens ernsthaft Gedanken machen. Einer davon ist Peter Kubelka, der bis in die 90er Kunst und Kochen an der Städelschule in Frankfurt gelehrt hat. Ich bin ihm neulich begegnet und vermute, er würde über Madame Mallory schmunzeln – nicht nur, weil er ein verschmitzter 80-jähriger Wiener ist.

Kubelka stellt Kochen und Essen über alle anderen Kunstgattungen. Die Natur zu gestalten, zu transformieren und sich einzuverleiben, das hat aus seiner Sicht zuallererst aus dem „Menschentier“ den Menschen gemacht. Für ihn gehört das Essen zu den ersten ästhetischen Lebenserfahrungen. Zum Beweis steckte er sich vor mir eine Himbeere in den Mund und sagte: „Da braucht man keine Sprache, keine Führung oder irgendeinen Unterricht: Selbst ein Kind weiß sofort: Das schmeckt gut.“

Vielleicht könnte man es so interpretieren: Der Wohlgeschmack der Himbeere macht uns überhaupt erst empfindlich für die Ästhetik der anderen Künste. Das ist ein Plädoyer für Naivität, das mir viel sympathischer ist. Übrigens: Es gibt gerade noch Himbeeren. Stecken Sie sich mal eine in den Mund. Nur eine.

Foto: Constantin Film