Das neue Protein

Auf dem Jahrmarkt der kulinarischen Eitelkeiten gibt es zwei neue Begriffe: „Pegan“ und „entomophag“. Mal sehen, was in 2016 mehr von sich Reden macht. „Pegan“ ist so zusammengesetzt wie Brangelina, also ein Kofferwort aus vegan und paleo und meint tatsächlich eine steinzeitliche Gemüseküche. Es ist das Non-plus-Ultra für alle, die wirklich, wirklich politisch korrekt essen wollen. Denn für Peganer sind nicht nur tierische Produkte tabu, sondern auch Soja, die Pflanze, für die Regenwälder weichen müssen und die der Liebling der Gentechniker ist.

Der andere Trend sieht die Zukunft der Ernährung bei Insekten. Rational spricht viel dafür, dass wir sie auf den Speiseplan nehmen. Denn egal ob Soja oder Fleisch, man sieht schon heute, welche Folgen für die Umwelt und das Klima die Ernährung mit diesen Proteinquellen hat. Und was, wenn einmal neun Milliarden Menschen auf dem Planeten leben?

Die Welternährungsorganisation (FAO) hat deshalb schon 2013 Insekten als Alternative in die Debatte gebracht. Maden, Grillen oder Ameisen sind nämlich echte Proteinbomben. Und im Vergleich zu Schwein, Kuh oder Rind ganz gehörig im Vorteil. Man braucht kaum Platz, um sie züchten. Sie stoßen weniger Klimagase aus. Und brauchen viel weniger Futter, um die gleiche Menge an Protein zu bilden. In Sachen Nachhaltigkeit und Klimafreundlichkeit, scheint es, sind Insekten also Superfood. Laut FAO ernähren sich bereits zwei Milliarden Menschen von fast 2.000 verschiedenen Insektenarten.

Bei so viel Vernunft möchte möchte man doch gleich eine frittierte Grille mit den Zähnen knacken.

Sie nicht? Mir geht es genau so. Und ich glaube sogar, auch vielen der zwei Milliarden angeblich praktizierender Entomophagen: Auf asiatischen Nachtmärkten, wo Grillen, Heuschrecken und Riesenwanzen als Mini-Schaschlik angeboten werden, habe ich nie Einheimische zugreifen sehen, nur junge, alkoholisierte westliche Touristen, die nichts besseres für eine Mutprobe fanden.

Woher kommt die Skepsis? Klar, viele Insekten gelten als Ungeziefer, als Anzeichen für unhygienische Zustände im Haus – und sogar als Krankheitsüberträger. Aber gilt das für Schwein und Huhn nicht ganz ähnlich? Und so ganz eindeutig ist die Ablehnung ja nun auch wieder nicht. Immer mehr Menschen sorgen sich um den Erhalt der Biene – oder hängen Insektenhotels in ihre Gärten. Ich halte am meisten von der These, nach der der Mensch einen allgemeinen Unwillen hat, Tiere zu essen. Den haben wir uns nur gegenüber ganz bestimmten, einzelnen Arten über Jahrtausende abgewöhnt.

Auf die vielen Start-ups, die derzeit in Insektennahrung machen, kommt also Überzeugungsarbeit zu. Am erfolgreichsten sind bislang die, die uns nicht das pure Insekt in den Mund schieben wollen. Aus den USA etwa kommen Chips aus Grillen-Mehl, beworben als proteinreich und praktisch fettfrei. Noch mehr Zukunft aber haben Insekten als Tiernahrung. Dazu gibt es neuerdings sogar eine Risikoeinschätzung der EFSA, das ist das europäische Amt für Lebensmittelsicherheit. Seit dem BSE-Skandal ist man nämlich vorsichtig, an Tiere tierische Proteine zu verfüttern. Die EFSA hat festgestellt, das etwa Hühner auch sonst Würmer und Maden lieben und es kein überhöhtes Risiko gibt. Sieht nach einer großen Chance für die Tiermehl-Wirtschaft aus.

Aber industriell verarbeitete Insekten – wollen wir uns das wirklich antun. Wenn man bedenkt, dass es sich um die uralte Lebewesen handelt. Ich sehe schon den nächsten Trend kommen. Der heißt dann „entopegan“.

Foto: William Ng | CC

Laue Glut

Geht’s noch? Es ist gerade Ende März, und ich will schon übers Grillen reden. Ja, das müssen wir. Denn mittlerweile erobern Grillfleisch und Würstchen die Frischetheken, sowie die ersten Krokusse aus den Wiesen sprießen. Als ob man den Sommer herbeirösten könnte.

Grillen ist längst dabei, zum Ganzjahresgeschäft gemacht zu werden. Wintergrillen, das war über die vorigen Monate ein Thema, über das man wieder und wieder lesen konnte. Mit idyllischen Fotos – von harten Kerls, die in tief verschneiter Winterlandschaft den Grill umringen, meist vor einem tiefblauen Alpenhimmel. An den Aufnahmen ist bemerkenswert: Sie zeigen Menschen, die in der Kälte näher um die Glut zusammenrücken, als es irgendjemand an einem warmen Sommerabend wagen würde. Da kann der Grill buchstäblich als Herzstück gesellschaftlichen Zusammenseins inszeniert werden, ganz nach dem Motto: „Wir essen gleich vom Rost. Sonst kühlt das Fleisch zu schnell aus.“

Ja, überhaupt kann man zu dem Schluss kommen, im Winter geht es beim Grillen um den Kern. Nämlich ums Fleisch. Leichte Salate mit fruchtiger Vinaigrette, davon etwa empfehlen viele Autoren Abstand zu nehmen. Wer beißt schon gern in halbgefrorene Tomaten? Nein, wenn Minusgrade herrschen, muss einfach alles aus der Hitze kommen. Da ist das Tierische noch mehr Trumpf.

Aber genug. Die Tage werden lauer und die Aussichten besser, dass man nicht mit triefender Nase in der aufgeweichten Erde herumstampft, während man in der Nasskälte darauf wartet, dass die Kohle auf Betriebstemperatur kommt. Deshalb will ich von einem anderen Trend berichten, der gar nicht zum Bild der harten Kerls am Feuer passt. So langsam wird mit einer Gewohnheit gebrochen, die besagte: Je länger es dauert, bis die Kohle glüht, umso kürzer bleibt das Fleisch auf dem Rost. Am Grill ist eine neue Zeit der Zärtlichkeit ausgebrochen.

Denn auch bis hierhin hat sich die Kunde getragen, dass es mit Fleisch und hohen Temperaturen so eine Sache ist. Dass scharfes Anbraten in der Pfanne irgendwelche Poren schließen würde, hat sich als Mär erwiesen. Fleisch schmeckt am besten, wenn es sanft und mit Geduld auf den Garpunkt gebracht wird. Und der ist gar nicht so hoch. 56 Grad bei einem Rinderfilet, etwa 70 Grad bei einem Hühnchen. Das Sous-Vide- oder Niedriggar-Verfahren ist deshalb für immer weniger Menschen ein Fremdwort (und für meine Leser, hoffe ich, erst recht nicht). Man muss dafür nicht gleich Fleisch vakuumieren und ins Wasserbad hängen. Ein Steak nach dem Anbraten im aufgewärmten Ofen ruhen zu lassen, folgt der gleichen Erkenntnis.

Auch über offener Glut lässt sich das anstellen. Man nennt das indirektes Grillen. Es ist ein Verfahren, das dem Backen im Grunde viel ähnlicher ist als dem Braten. Das Fleisch braucht dafür Abstand von der Hitze. Die Kohle wird deshalb im Grill auf die Seiten geräumt, und damit die Hitze sich auch lang entfalten kann, wird zusätzlich noch ein Deckel eingesetzt.

Haben Sie vielleicht auch einen Kugelgrill? Für viele Leute sind sie so praktisch, weil diese runden Hauben den Apparat je nach Jahreszeit vor Regen, Schnee und Rost schützen. Oder einfach so schön das schnaufende, ranzige Innere des Grills verbergen, wenn die Mahlzeit auf dem Teller liegt. Die Deckel sind aber vor allem kulinarisch zweckmäßig. Unter ihnen lassen sich dicke Steaks, ganze Hühnchen und sogar Fisch zubereiten, ohne Gefahr zu laufen, dass die Stücke außen schwarz werden und innen roh bleiben. Sogar Pizza, Brot oder Kuchen lassen sich so wie in einem Backofen zubereiten.

Man sollte eben nur mit der Glut geizen. Deshalb passt die neue Art des Grillens auch nicht wirklich zum Winter. Aber wie gesagt: Die Tage werden jetzt ohnehin lauer.

Foto: James Offer | CC

So was Ekelhaftes

Haben Sie schon mal ein großes Schlachthaus von innen gesehen? Es ist nicht so leicht, eine Gelegenheit dazu zu bekommen. Und die wenigsten Menschen finden, dass man einen solchen Ausflug gemacht haben sollte.

Ich war trotzdem mal in einer solchen Fleischverarbeitungsfabrik. Ein paar Jahre ist das her. Gläserne Schlachterei nannte sich die, und es war am Ende doch ein interessantes Erlebnis. Vor allem deshalb, weil der Besuch an die Besichtigung einer Nuklearanlage erinnerte. Da musste Hygieneschutzkleidung angezogen werden, vor allem mussten diese Tütchen übers Haupt gezogen werden, immer wieder waren Hygieneschleusen zu passieren, in denen man mit den Schuhen durch Desinfektionsbäder laufen und die Hände waschen musste.

Nah ans Fleisch kam man trotzdem nicht. Die meiste Zeit lief der Besucher über eine Galerie, von der man durch dicke schalldichte Scheiben in eine Halle sah, wo Chrom glänzte und Kacheln blinkten. Wie Schweine zersägt wurden, Keulen zerhackt und Fleisch verwurstet wurde, das sah man, konnte es aber nicht hören. Eine blutige Angelegenheit schien das Fleischhandwerk nicht zu sein. Der Mitarbeiter, der die Besucher führte, war ein freundlicher und eloquenter Mensch. Er war am Ort geboren, wie er erzählte.

Aber wer waren die Menschen am Hackklotz, an der Kreissäge oder am Cutter? Wenn man Einzelne zu lange ansah, drehten sie sich weg. Sie kamen sich wohl vor wie im Zoo.

Ich möchte nicht glauben, dass diese Menschen zu einem Hungerlohn gearbeitet haben und nach getaner Arbeit mit Bussen in ein Feriendorf im Wald gebracht wurden wie Tiere aus dem Gehege in den Stall. Aber inzwischen halte ich es für wahrscheinlich. Denn langsam kommt raus, welche Sklavenmärkte es im Billiglohnland Deutschland gibt, nicht nur bei Amazon oder DHL, sondern offenbar auch im fleischverarbeitenden Gewerbe. Wenn ich schon einen chromblitzenden Anblick auf das Fleisch serviert bekam, vielleicht dann auch auf die Menschen, die das Fleisch verarbeiteten.

Niemand hat die Zustände, wie sie langsam ans Tageslicht kommen, besser beschrieben als der amerikanische Romancier Upton Sinclair. Nur dass das schon über hundert Jahre her ist. Sein Roman „Der Dschungel“, gerade im Europa Verlag neu aufgelegt, ist ein Meisterwerk der Sozial- und Investigativreportage. Monate recherchierte der Autor dafür im Schlachthofviertel von Chicago, damals mit fast 50.000 Arbeitern die größte Fleischerei der Welt. Die Parallelen zu den heutigen Verhältnissen in Deutschland sind beängstigend.

Held des Romans ist ein litauischer Einwanderer, Jurgis Rudkus, der verzweifelt den Einstieg in den amerikanischen Traum sucht, dabei aber wie ein „Hans im Pech“ von Ausbeuter zu Ausbeuter gereicht wird und immer neue Schicksalsschläge erleidet. Sinclair erzählt das in der Kulisse des Schlachtviertels, einer Hölle der Akkordarbeit, wo TBC-Kranke ins Fleisch husten oder Arbeiter vor Erschöpfung stolpern, in die Bottiche fallen und mit eingedost werden. Wo die Arbeitskraft keinen Pfifferling wert ist.

Schlachtbetriebe in Deutschland bieten heute für das Zerlegen eines Schweins in verkaufsfertige Portionen einen Pauschalpreis von 1,66 Euro pro Stück an. Oder sogar weniger. Wegen des Werkvertragswesens machen sie dabei sogar noch einen Schnitt. Die Rudkus von heute kommen wieder aus Osteuropa.

Dieser Dumpingarbeit steht die Erinnerung von älteren Leuten gegenüber, die noch bei einer Hausschlachtung dabei gewesen sind. Ein Tag ging drauf. Meist war die ganze Familie zugegen, wenn morgens der Schlachter kam, die Haussau, die das ganze Jahr über liebevoll gemästet worden war, abstach und das Tier dann zum Ausbluten an einem Balken an der Scheune aufgehängt wurde. Anschließend begann die Zerlegung, wurden Schinken eingesalzen, Blutwürste gezogen, Innereien gekocht. Warum sind solche Hausschlachtungen zur Erinnerung geworden, was hat die Arbeit so billig gemacht?

Natürlich: Es ist die arbeitsteilige Welt, die Gier nach dem Schnäppchen, die aus dem Ruder gelaufene Einstellung, was wie viel wert sein muss, die zu solchen Entwicklungen führen. Aber es ist auch unser Begriff von Hygiene. Es ist vor allem die Angst um die Gesundheit des Konsumenten, warum nach jedem Lebensmittelskandal politische Kampagnen angeworfen werden. Auch hier gibt es eine Parallele zum Chicagoer Schlachthof. Auf Upton Sinclairs Enthüllungen folgte nur ein neues Lebensmittelgesetz, das die Qualität der Fleischkonserven verbessern sollte.

Beim Pferdefleischskandal in diesem Frühjahr war es nicht anders. Es bestand keine ernsthafte Gefahr für Leib und Leben, die Verbrauchertäuschung entsprach nur der allgemeinen Discountlogik, billigstes Fleisch in Tiefkühllasagne zu verstecken. Aber der verbreitete Ekel war wieder ein ernsthafter Impuls für die Ordnungspolitik. Kontinentweite DNA-Tests begannen, wieder wurden für Lebensmittel Maßnahmen entwickelt, um ihre absolute Rückverfolgbarkeit zu gewährleisten, aus Gründen der Ernährungssicherheit.

Absolute Rückverfolgbarkeit und größtmögliche Keimfreiheit sind übrigens am besten in geschlossenen Produktionsketten zu erreichen. Das ist auch der Grund, warum Menschen und Tiere in fensterlosen Fabriken, hinter Stacheldrähten und Hygieneschleusen irgendwo auf dem flachen Land gehalten werden und ganz vereinzelt mal in einer glänzenden Umgebung hinter dickem Glas. „Die Käseglocke schützt auch die Maden“, hat einmal ein deutscher Aphoristiker geschrieben. Die Maden sind die, die in Deutschland mit solchen Billiglöhnern ihr Geschäft machen.

Aber kann denn das wirklich sein? Erst vor ein paar Monaten, als das Rana-Plaza-Gebäude in Bangladesch einstürzte und 3.000 Näherinnen unter sich begrub, nahm man in Deutschland auch in breiten Kreisen wahr, welche himmelschreienden Zustände in einem solchen Billiglohnland herrschen. Und nun soll Vergleichbares hierzulande geschehen, im Fleischereigewerbe der menschenleeren deutschen Provinz. Aber es gibt da einen Zusammenhang.

Es ist der schöne Schein, an den wir uns gewöhnt haben. Den wir bewahren möchten. Wer würde in einer Großstadt wie Berlin an einer Nähstube vorbeigehen, in der Frauen im Akkord nähen, und um die Ecke diese T-Shirts für 1,99 Euro kaufen? Wer möchte durch den blutigen Geruch aus dem Gully darauf hingewiesen werden, dass irgendwo in der Nähe Tiere geschlachtet werden? Und dort auch noch Fleisch kaufen?

Ganz im Gegenteil: Wo sich die kleinen Rana Plazas unserer eigenen Geschichte abspielten, wird heute teuer renoviert und original instand gesetzt, wird die Erinnerung an die gute alte Zeit der Industrialisierung wiederbelebt. Nie war der Klinker an ehemaligen städtischen Schlachthöfen besser in Schuss, weil Lofts, Cafés und Büros entstehen. Ob im ehemaligen New Yorker Meatpacking District oder im Schlachthofviertel von Ostberlin, ob in München, Karlsruhe oder Soest. Irgendwie auch eine Hygienemaßnahme für die Erinnerungen.

Es ist eben auch der Ekel vor sozialen wie hygienischen Zuständen, warum wir uns manches aus den Augen schaffen müssen, egal ob nach Bangladesch oder ins Oldenburger Münsterland. Aber wenn das einmal geschehen ist, dann ist es mit der Transparenz und Kontrolle so eine Sache. Stichwort Käseglocke.

Seit Karl Marx wissen wir, dass zu den wesentlichen Merkmalen des Kapitalismus die Entfremdung des Arbeiters von seiner Arbeit gehört. Die Entfremdung des Kunden von seiner Ware gehört auch dazu.

Foto: Mr172 | CC