Die Fremde um die Ecke

Mein Asia-Laden hat geschlossen. Die goldene Glückskatze winkt nicht mehr im Schaufenster, die gewundene Neonröhre über der Tür ist auch weg. Zu jeder Tages- und Nachtzeit verkündete sie blinkend open, egal, ob innen Licht brannte oder nicht.

Ich blicke durch die Scheibe, die im Winter immer angelaufen war. Die Schatten der Kunden spiegelten sich in der milchigen Feuchtigkeit. Ich höre noch den ununterbrochenen Anschlag auf den Kassentasten, darüber den schrillen Brei aus Asiapop. In der dunklen Leere hängt nur noch ein Plakat. Ein kleiner asiatischer Junge, wie eine Putte, zeigt seinen Bizeps. Für was er wohl wirbt? Nachwuchs-Kung-Fu? Die Kraft der Milch? Ist er vielleicht ein vietnamesischer Kinderstar? Es ist das erste Mal, dass ich mich das frage, das Plakat ist mir nie aufgefallen. Genauso wie mir das erste Mal der Begriff „mein Asia-Laden“ in den Kopf kommt.

Als Koch hat man seine Spleens. Die Suche nach neuen Zutaten, der Wille, einem Rezept völlig gerecht zu werden, führt einen auf verschlungene Wege durch die Stadt. Sie können zur Gewohnheit werden. Andere Leute gehen in Ausstellungen, ins Kino oder ins Museum. Ich besuche Geschäfte wie meinen Asia-Laden.

asiakräuter
Viele Kräuter und Gemüse. Alles Thai?

Man musste sich hier durch enge Regalreihen zwängen. Aus dem Staunen kam man selten heraus: über Verkäuferinnen, die sich zu beschimpfen schienen, wenn sie etwas sagten; über große Stinkfrüchte, an denen stand „Berühren verboten“; über Krabben in Styroporboxen, die ständig übereinander und bis an den Rand krabbelten, aber nie hinausfielen. Warum roch es hier nach vergorenem Bambus, nach Schweröl aus dem Containerhafen? Wieso lag hier Reis in Zementsäcken aufgeschichtet? Und weshalb war das Glas mit chinesischer Bohnenpaste „Made in Korea“?

Rätsel über Rätsel. Um sie zu lösen, konnte man selten Hilfe erwarten. Einmal hatte ich vier Beutel mit dem unterschiedlichsten Blattwerk in der Hand, auf allen stand „Basilikum“. „Ich brauche Thai-Basilikum“, sagte ich zu der Frau an der Kasse. „Alles Thai“, entgegnete sie kurz angebunden.

Manchmal half man sich untereinander. Zum Beispiel, wenn jemand nach Kombu fragte, getrockneter Seetang, der in Japan in die Suppe kommt. Der Verkäufer zuckte nur die Schultern. Ein anderer Kunde sagte: „Hinten beim Sushi.“ „Mein Asia-Laden“ wurde von Vietnamesen geführt. Ganz sicher.

Man fühlte sich hier immer unaufgehoben. Aber genau das machte die Faszination aus. In „meinem Asia-Laden“ war man fremd und hatte fremd zu bleiben. Nie konnte sich die Frau an der Kasse ein Lächeln abringen oder irgendein anderes Signal des Wiedererkennens, obwohl ich regelmäßig kam.

Einen Scanner gab es nicht. Warum auch, so schnell, wie sie die Preise eingab. Sie hatte alle im Kopf. Aber es schien mir, sie erwartete, dass ich genau so schnell einpackte. Wenn es ihr zu langsam ging, bewarf sie den Pak Choi, die Chilisoße, den Basmati-Reis, die Dosen mit Kokosmilch und all die anderen Einkäufe mit einer Abreißtüte nach der anderen.

Als ich einmal sagte, wie sehr ich den Laden mochte, verzog sie den Mund nur zu einem sauren Ausdruck, schob mir dann aber noch etwas in die Tüte: ein Ding, das ungefähr so aussah wie ein Sparschäler. Sich aber als Zungenreiniger entpuppte. Auf der Packung lächelte eine Comicfigur, die verdammt nach Kim Jong Il aussah. Was sollte das nun wieder bedeuten?

Inzwischen hat hier ein Espresso-to-go-Laden eröffnet. Und ich habe ein anderes Geschäft gefunden, das Miso führt, Senfgemüse, Lotuswurzeln. Vieles ist hier genau wie im alten. Aber ich habe beschlossen, es schneller „mein Asia-Laden“ zu nennen.

Fotos: SpirosK | CC, dcmaster | CC

Ansicht eines Clowns

Der Dialog im Werbespot klingt wie aus einem Kinderbuch, das böse ausgehen wird. Ein kleiner Junge beginnt: „Meine Mutter sagt, ich soll niemals mit Fremden sprechen.“ Der Mann neben ihm antwortet: „Deine Mama hat wie immer recht. Aber ich bin Ronald McDonald. Und jetzt gib mir was von deinem Shake.“ Es sind die ersten Worte, die der berühmteste Clown der Welt sprach.

Warum musste es gerade so ein August sein, fragt man sich heute: eine Gestalt, die nicht immer ein Sympathieträger ist, die vielen Menschen Angst einflößt, über die wir lachen, selten mit ihr. Wie kam eine kleine Fastfood-Kette dazu, ihre Hamburger ausgerechnet von so einem Hanswurst verkaufen zu lassen? Und das seit fünfzig Jahren.

2554630372_b4271374e8_mDer Geburtstag des Clowns ist ein recht wenig beachtetes Jubiläum. Zu Unrecht – bei einer solchen Biografie: Die allseits bekannte Pappnase ist in den vergangenen fünf Jahrzehnten zur Hassfigur eines aggressiven, weltumspannenden Konzerns geworden. Doch das liegt nicht nur an McDonald’s. Ronalds Geschichte ist auch die des Clowns in heutigen Zeiten.

Als Ronald im Herbst 1963 das erste Mal auf einigen TV-Kanälen im Raum Washington zu sehen war, auf vielen Geräten noch in Schwarz-Weiß, machte sich McDonald’s gerade daran, den amerikanischen Markt zu erobern. Ray Kroc, der erste Franchise-Nehmer, hatte den Brüdern McDonald das Unternehmen abgekauft und perfektionierte das System, Filialen nicht selbst aufzubauen, sondern Lizenzen an Restaurantgründer auszugeben.

Ein Jahr zuvor waren das erste Mal US-weit Anzeigen in überregionalen Magazinen geschaltet worden. Dass McDonald’s am Ende des Jahrzehnts ein börsennotiertes Unternehmen sein würde, mit den ersten Filialen in Europa, zeichnete sich noch lange nicht ab. Aber Ray Kroc hatte bereits eine neue Zielgruppe identifiziert, die ihm helfen sollte, sein Hamburger-Imperium aufzubauen: Kinder.

OriginalronaldmcdonaldDer Clown sollte sein engster Verbündeter werden. Selten wurde das so klar wie in dem ersten TV-Spot mit dem eingangs zitierten Dialog. Noch sah der Clown nicht so aus, wie wir ihn heute kennen. Es fehlten die übergroßen Schuhe und die rote Perücke. Der erste Ronald McDonald, übrigens gespielt von dem damals sehr bekannten TV-Meteorologen Scott Willard, ein US-Kachelmann der 60er Jahre, sah eher aus wie die Vogelscheuche aus dem „Zauberer von Oz“, mit einem Pappbecher auf der Nase und einem Tablett als Hut, darauf Hamburger und Pommes.

Clownerie betrieb er nie

Vier Jahre später wurde Ronald McDonald als Warenzeichen eingetragen. Geschützt waren fortan der rot-gelbe Overall, die rot gestreiften Strümpfe, die übergroßen roten Schuhe und ein weiß geschminktes Gesicht mit roter Perücke. Ein Lebensmittelkonzern reklamierte auf einmal das Recht auf eine Figur, die seit Jahrhunderten der Gesellschaft den Spiegel vorgehalten hatte, die tolpatschig durch Zirkusarenen lief, in Sketchen Neid, Liebe, Wut und Eifersucht freien Lauf gab. Und die einen zu einem Lachen brachte, das immer auch nah am Weinen war.

Der Clown ist keine so positive Gestalt, er war es nie. Ob Hanswurst, Kasper oder Pierrot, in sämtlichen Kulturen gibt es diese Figur, ob in der Antike, bei den alten Chinesen oder in nordamerikanischen Indianergesellschaften: karnevaleske Persönlichkeiten, eigentlich gesellschaftliche Outsider, mit unstillbarem Appetit auf all das, was die Gesellschaft tabuisierte. Ein Triebtäter, über den man lachte, solange er nur spielte.

Ronald McDonald übernahm von diesem Charakter zunächst nur das Kostüm. Clownerie betrieb er nie. „Chief Happiness Officer“ nannte ihn der Konzern. Sein Erfinder, Scott Willard, hatte sich das von Bozo abgeschaut, Moderator einer damals bei Kindern beliebten TV-Show. Bozo trat in blauem Kostüm, mit riesiger Halskrause, weißem Gesicht und einem überdimensionalen, feuerroten Haarkranz auf, war aber nicht mehr als ein gut meinender Sympathikus, der Kinder beschenkte, ihnen Geschichten vorlas und ziemlich vernünftig war. Eigentlich eine Figur wie der Weihnachtsmann. Ronald McDonald verkörperte noch eine kleine Spur mehr Anarchie.

Der bekannteste Kindergärtner der Welt

Mit ihm wurden die Kinder zu Botschaftern des Fastfood. Kleinkäsehoch wurde bei McDonald’s König. Die übergroße Plastikfigur am Eingang, bunt dekorierte Räume, in denen man Freunde zum Geburtstag einladen konnte und denen der Clown Tabletts mit Pommes und Hamburgern servierte. Noch bevor Kindergärten so lustig und bis zur Höhe der Pissoirs kindgerecht gestaltet waren, hatte McDonald’s das vorweggenommen. Und Ronald war zum nettesten und bekanntesten Kindergärtner der Welt geworden. Er hatte eine Autorität bekommen, die Eltern nur selten angreifen wollten. Schließlich handelte es sich um eine Witzfigur.

In den USA war der Clown in den 70er Jahren bei Kindern bekannter als Micky Maus. Vielleicht hätte es ewig so weitergehen können, wenn nicht zur selben Zeit das Böse am Clown wiederentdeckt worden wäre. 1980 war in den USA das Jahr einer aufsehenerregenden Mordserie. John Wayne Gacy, ein ehemaliger Koch in einem Restaurant von Kentucky Fried Chicken, hatte jahrelang Kinder als „Pogo der Clown“ auf Straßenparaden unterhalten. Immer wieder hatte er mithilfe des Kostüms bei Jungen Vertrauen erweckt, sie aber dann eingekerkert, vergewaltigt und anschließend umgebracht. Unter seinem Haus wurden 28 Leichen ausgegraben. Der Killer-Clown, wie ihn die Medien nannten, wurde zwölfmal zum Tode verurteilt und 1994 hingerichtet.

Von da an sollte der nette Perückenträger zu einer sinistren Persönlichkeit werden. Das färbte auch auf das Fastfood-Maskottchen ab. Die Düsseldorfer Punkband „Der Plan“ sang von „gefährlichen Clowns“, die als gelbrote Ronald McDonalds Deutschland in ein Junkland verwandeln wollten.

Das Böse im Clown

Und in der Popkultur wurde der Clown zu einer Horrorgestalt: In „Poltergeist“, 1982 produziert von Stephen Spielberg, erwacht eine Clownspuppe zum Leben und versucht den kleinen Jungen einer Vorstadtfamilie unters Bett zu ziehen. Vier Jahre später erschuf Stephen King die Figur des Pennywise für seinen Roman „Es“.

Stephen-Kings-EsDas Dunkle im Clown wandelte sich zur Chiffre für das Abgründige: In den grotesken Clownsbildern von Cindy Sherman, in unzähligen Filmszenen, in denen Bankräuber Clownsmasken tragen, als übellauniger, kraftmeiernder Krusty in der TV-Serie „Die Simpsons“. Mit weißem Gesicht und rot verschmiertem Mund mutierte der Joker, zuletzt 2008 verkörpert von Heath Ledger in der Batman-Verfilmung „The Dark Knight“, zum größten Kinoschurken aller Zeiten.

Rentner Ronald

Unterdessen ist aus Ronald McDonald der Hauptangeklagte für Übergewicht und Fehlernährung von Kindern weltweit geworden. Er wurde als Galionsfigur einer Globalisierung mit falschem Lächeln identifiziert. Immer öfter werden Ronald-Statuen vor Schnellrestaurants umgeworfen. 2004 entwarf der Street-Art-Künstler Banksy ein Graffito, auf dem Ronald McDonald und Micky Maus gemeinsam ein traumatisiertes, nacktes vietnamesisches Mädchen an den Händen halten.

Der Clown ist zu einem der beliebtesten Ziele der Adbusters-Bewegung geworden, der Kommunikationsguerilla, die Werbung verfremdet, einem Vorläufer von Occupy Wallstreet. Nach dem US-Einmarsch in den Irak kursierte eine Postkarte mit einem rotmundigen George W. Bush, darunter stand „Ronald McMurderer“.

Eigentlich ist das Maskottchen nun verbrannt. Um Kinder zu locken, hat McDonald’s mit dem „Happy Meal“ schon längst eine andere Strategie entwickelt. Obwohl US-Elterninitiativen schon seit Langem fordern, den Clown in Rente zu schicken, kann sich der Konzern nicht offiziell von ihm trennen. Faktisch aber ist der „Botschafter für einen aktiven, ausgeglichenen Lebensstil“, wie er inzwischen heißt, in Altersteilzeit. Zwar geistert er noch in Ronald-McDonald-Häusern und in Eltern-Kind-Einrichtungen herum, aus den Restaurants jedoch ist er weitgehend verschwunden.

Fotos: Rochelle Hartmann | CCjoiseyshowaa |CC, Wikipedia

Abseits der Natur

Jetzt also hässliches Gemüse. Man darf sich darüber freuen, 40 Prozent der Ernte sind im Obst- und Gemüsebau Ausschuss, weil verwachsen, krumm und schief, nicht ansehnlich genug. Bisher fast unverkäuflich. Landwirte pflügen die mangelhafte Ernte wieder unter, verkaufen sie an die Saftindustrie oder verarbeiten sie zu Tierfutter. Dieses Gemüse soll nun in Supermärkten eine Exotennische bekommen. Das sei eine „Herzensangelegenheit“ heißt es bei Edeka, ganz entsprechend dem Motto „Wir lieben Lebensmittel“. Vor allem ist es aber eine gute Geschäftsidee. Gemüse, das bisher wegen seines Wildwuches gar keinen Weg auf den Markt fand, nun genau deswegen ein bisschen teurer zu verkaufen als Einheitsgemüse: Die Überlegung verspricht Gewinn. Für Landwirte wie den Handel. Wenn der Verbraucher mitmacht.

Und dafür spricht viel. Die Abschaffung der europäischen Krümmungsnorm für Salatgurken hat nicht geholfen, die Skepsis gegenüber Obst und Gemüse zu verringern. Im Gegenteil. Tomaten, die sich Wochen im Kühlschrank halten, Paprika, die auf Steinwolle wächst, Mangos, Bananen, Ananas, die grün geerntet werden und bei der Fahrt übers Meer in Spezialcontainern ausreifen müssen: All das hat den allgemeinen Verdacht der „Unnatürlichkeit“ verstärkt.

Wenn man sich ansieht, wie Obst und Gemüse im Supermarkt ausgestellt sind, gleich am Eingang und meist in einer holzverschalten Umgebung, die Markthallen-Ambiente ausstrahlt, kann man sich vorstellen, wie wichtig das vegetarische Angebot für den Einzelhandel ist. Es hat Leuchtturmfunktion. Der Kunde soll auf den ersten Metern gesund einkaufen und möglichst natürlich, nur um dahinter umso mehr zu sündigen. Lässt ihn aber schon Obst und Gemüse vorsichtig werden, dann wird er noch weiteren Abstand zur Fleischtheke halten.

War aber je natürlich, was in den Obst- und Gemüsekisten lag? Die Frage muss gestellt werden, Authentizität hat sich im Lebensmittelbereich zum Verkaufsargument schlechthin gemausert. Alte Mühlen auf eingeschweißter Wurst, das Stichwort „regional“ allerorten, die Werbung mit dem „traditionellen Rezept“, jetzt das verwachsene Gemüse: Alles ist recht, an eine gute alte Zeit der Unverfälschtheit zu erinnern, in der die Nahrungswelt noch irgendwie in Ordnung war.

War aber überhaupt je natürlich, was da in den Obst- und Gemüsekisten auf den Kunden wartet? Diese Frage muss gestellt werden, Authentizität hat sich nämlich im Lebensmittelbereich – und nicht nur dort – zum Verkaufsargument schlechthin gemausert. Alte Mühlen auf eingeschweißter Wurst, das Stichwort „regional“ allerorten, die Werbung mit dem „traditionellen Rezept“, nun verwachsenes Gemüse: Jede mögliche Phantasie ist recht, an eine gute, alte Zeit der Unverfälschtheit zu erinnern, in der die Nahrungswelt noch irgendwie in Ordnung war. Das lässt schneller zugreifen.

Es ist eigentlich ein durchsichtiges Spiel, dieses ständige Versprechen eines Essens wie früher, wie bei Oma. Die heile Nahrungswelt hat es nie gegeben. Denn wir vergessen nur zu gern, dass es sich bei diesen Großmüttern um eine Generation handelt, die das Aufkommen von Dosenobst, Maggi-Würfel und und Pfanni-Knödel so begeistert in ihre Küche aufnahm. Wollen wir einfach nur zurück in die naiven Anfangsjahre der industriellen Lebensmittelrevolution?

Natur, das waren Obst und Gemüse nie. Und Bauern und Gärtner selten deren Bewahrer, viel öfter Gegenspieler. Schon lange bevor es Gentechnik gab. Sie züchteten aus einer kleinen unscheinbaren Knolle eine nahrhafte Stärkebombe, die Kartoffel, und aus hohem Wildgras kurzen Weizen mit schweren Ähren. Solche Kulturpflanzen werden heute von Agrarhistorikern gern als clevere Kulturfolger beschrieben, die sich intelligent an die Bedürfnisse von Homo Sapiens angepasst haben, um ihr Überleben zu sichern.

Aber man kann es auch so sehen, dass der Mensch sie in einen mephistofelischen Pakt gezwungen hat: Verändert Eure Natur nach meinen Bedarf, und Unsterblichkeit ist Euch sicher. Und es sind die moralischeren von uns Mephistos, die klagen, wenn die ein oder andere Sorte dieser Kreaturen sich dann doch nicht so anpassungsfähig beweist.

Natur, Ursprünglichkeit, Authentizität: Das sind, wenn man Lebensmittel betrachtet, die absolut falschen Kategorien. Sie verstellen den Blick. Auch die dick mit Erde verkrustete Linda-Kartoffel im Bioladen ist nicht natürlicher als eine geputzte Allerweltssieglinde im konventionellen Supermarkt. Beide sind vor allem nur ein Produkt menschlicher Kultur. Also auch ein Objekt von Moden und Trends. Da es um Kultur geht, darf und muss man über ihre Gestalt streiten und den Geschmack. Aber auch, wenn wir überleben wollen, wie diese Kultur dem Menschen am meisten nützt und – Achtung – der Natur am wenigsten schadet. Es geht um Ästhetik, und die Endung Ethik sollte darin groß geschrieben sein.

All der warenförmige Anschein von alter Ursprünglichkeit, der ganze Rückgriff auf die Natur verhindert so eine Diskussion. Denn was, wenn Neues zum Einsatz kommt, mit dem Altes erst gerettet werden kann? Ein Beispiel: In Holland entstehen gerade hochmoderne Gewächshäuser, beheizt werden sie mit Erdwärme und der Restenergie aus Kraft-Wärme-Kopplung. Gegossen werden die Pflanzen darin kontrolliert mit auf den Dächern gesammelten Regenwasser. Der Wasserverbrauch beträgt ein Bruchteil dessen im Freilandbaus. Nutzinsekte ersetzen Pestizide. Es sind hocheffiziente High-Tech-Anlagen, auf Nachhaltigkeit und möglichst wenig Ressourcenverbrauch ausgelegt. Nur hier, abseits der Natur, können manche der schädlingsanfälligen alten Sorten wiederbelebt werden. Oder Bio-Tomaten so billig wachsen – und auch reifen, dass man sie im Discounter verkaufen kann.

Gemüse aus Agroparks, schmackhaft, biologisch, aber mit CO2 aus Heizkraftwerken gefüttert; Organisches Obst aus urbanen Gärten, lokal angebaut: Das sind derzeit die vielversprechendsten Perspektiven, um wachsende Städte in Zukunft ressourcenschonend zu ernähren. Dafür werden die Grenzen zwischen Stadt und Land fallen müssen. Dabei hilft nicht, wenn Natur zu einem immer größeren Sehnsuchtsort ausgebaut wird.

Von modernen Glashäusern erfahren wir wenig. Warum wollen wir es nicht? Und wie weit darf die Gestalt von Lebensmitteln sich verändern, wenn sich ihr Anbau verändert? In Japan gelten quadratische Kürbisse als Delikatesse. Sie wachsen eng aneinandergereiht in eckigen Gläsern: Das spart Platz. Sind wir für eine solche Ästhetik bereit?

Erstmal kommt das wunderlich aussehende Gemüse in die Regale. Es ist nur eine Laune der Natur, die es missraten hat lassen, aber weder biologischer, regionaler oder fairer angebaut. Solange man bei Edeka und Co. nicht erfährt, welche Gemüse es sind, das dort geliebt wird, dann doch lieber wieder ab unter die Erde mit den Homunkuli.

Foto: mandymooo | CC
Dieser Text ist in einer kürzeren Fassung in der taz vom 22. Oktober 2013 erschienen.