Das ist keine Science Fiction

Die haben’s gut, denke ich als ich die Stufen zum Kunstgewerbemuseum auf dem Kulturforum hochsteige. Für die Berliner Straßenbäume ist der trockene Sommer ein Stresstest, schon beginnt das wenige Laub zu welken – und hier hängen die Obstbäume am Tropf. Neben jedem Apfelbäumchen steht ein Ständer, aus Infusionsbeuteln läuft grüne Flüssigkeit über einen Schlauch ins Erdreich. Es ist ein sehr ambivalentes Bild, das einen vor der Ausstellung „Food Revolution 5.0“ empfängt, sie läuft noch bis Ende September, und das, was einem in seiner Einfachheit sogar am meisten zu denken gibt. Muss die Natur auf die Krankenstation, damit wir uns in Zukunft noch ernähren können?

Urbane StreuObstWiese (don’t sit under the apple tree with anyone else but me), 2018 © Matton Office, Ton Matton/Björn Ortfeld (design)

Die Zukunft der Ernährung, sozusagen Food Fiction, das ist das eigentliche Thema der Schau. Denn so wie bisher kann es nicht weitergehen. Was und wie wir essen, geht zu sehr auf Kosten des Planeten, der hohe Fleischkonsum, der sich massive Düngemittel- und Pestizideinsatz in der Agrarindustrie. Und die Probleme potenzieren sich, je rasanter die Menschheit wächst und sich das westliche Ernährungsmodell um den Globus ausbreitet.

Auf drei Etagen sind über 30 Werke von Künstlern und Designern ausgestellt, mit sehr unterschiedlichen Antworten, einige lakonisch-spielerisch, andere bitterernst, alle aber – und das fällt dann doch auf: sehr politisch. Utopische und dystopische Entwürfe wechseln sich ab.

Carolin Schulze, Hase aus einer Mehlwurmpaste, 2014, © Carolin Schulze
Carolin Schulze, Hase aus einer Mehlwurmpaste, 2014, © Carolin Schulze

Vor dem Algenanzug beispielsweise kann einem richtig gruseln: Ein Gewirr von Schläuchen, die man sich wie einen Hoodie über den Oberkörper stülpt. Die Algen darin verrichten allein aufgrund der Sonneneinstrahlung ihre Arbeit, das Phytoplankton wird über einen Katheter direkt in den Magen geführt. Jeder mit dem eigenen Gewächshaus am Leib, nach diesem Farm-to-Belly-Prinzip wäre die menschliche Ernährung wahrscheinlich für alle Zeiten gesichert, aber das Kulinarisch-Lukullische, was wird daraus? Was aus dem Koch? Und was aus Wasser und Land, wenn sie kein Essen mehr liefern müssten, nicht mal mehr Genmais oder Zuchtlachs?

Und ganz so irre Science Fiction ist das gar nicht. Algen werden längst in Bioreaktoren eingesetzt, um Solarenergie zu bündeln, nur die Schnittstelle zum Verdauungstrakt fehlt noch. Künstliches Fleisch aus dem 3D-Drucker: An der Vision arbeiten längst Startups in Kalifornien und Israel. Und ist die Idee so verwegen, Hühnern im Massenstall Virtual-Reality-Brillen aufzusetzen und ihnen eine artgerechte Umgebung vorzuspiegeln? Wir finden es ja auch nicht unnatürlich, dass der Mensch sein Leben immer stärker in die Virtualität verschiebt.

Mottenspeisenkarte ©  Center For Genomic Gastronomy 2016

Am längsten aber stand ich vor einer Arbeit, die tatsächlich reine Phantasterei ist. Sie untersucht den menschlichen Körper als Nahrungsquelle für andere Arten. Wie können wir zurückgeben, was wir nehmen, nicht nur in dem wir Blut für Mücken liefern oder Hautpartikel für Doktorfische? Die Macher des Center for Genomic Gastronomy in den USA haben ein experimentelles Restaurant entworfen, in dem Menschen ihr Leben lang bis zum natürlichen Tod auf verschiedenen Ebenen Tieren zum Melken und Anknabbern angeboten werden. Das ganze in so schöner Umgebung und wie ein Wellnesstempel konzipiert, Pools und Lounges inklusive: Gäbe es dieses Lokal, ich würde mich sofort als Probant melden.

Es ist eine Ausstellung, die zeigt, Essen ist längst keine Privatsache mehr. Und das Problem ist so groß, es gibt keine einfachen Lösungen. Immer wieder stößt man auf leere Tische und Flächen, wie als Botschaft der Ausstellungsmacher: Wir hätten gern noch mehr, noch wildere Ideen gehabt. Ich bin sicher, Fortsetzung folgt.

Postkarte
© Cyan

Und übrigens: Für vier Tage zeigt der Sommer Food Markt am Kulturforum, wie die Zukunft schmecken kann: Mit Gastronomie, Marktstände, Workshops und Gesprächen. Von 21. bis Montag, den 24. Juni 2018

 

Foto auf der Startseite:  Austin Stewart, Second Livestock, 2014, © Austin Stewart

Das neue Protein

Auf dem Jahrmarkt der kulinarischen Eitelkeiten gibt es zwei neue Begriffe: „Pegan“ und „entomophag“. Mal sehen, was in 2016 mehr von sich Reden macht. „Pegan“ ist so zusammengesetzt wie Brangelina, also ein Kofferwort aus vegan und paleo und meint tatsächlich eine steinzeitliche Gemüseküche. Es ist das Non-plus-Ultra für alle, die wirklich, wirklich politisch korrekt essen wollen. Denn für Peganer sind nicht nur tierische Produkte tabu, sondern auch Soja, die Pflanze, für die Regenwälder weichen müssen und die der Liebling der Gentechniker ist.

Der andere Trend sieht die Zukunft der Ernährung bei Insekten. Rational spricht viel dafür, dass wir sie auf den Speiseplan nehmen. Denn egal ob Soja oder Fleisch, man sieht schon heute, welche Folgen für die Umwelt und das Klima die Ernährung mit diesen Proteinquellen hat. Und was, wenn einmal neun Milliarden Menschen auf dem Planeten leben?

Die Welternährungsorganisation (FAO) hat deshalb schon 2013 Insekten als Alternative in die Debatte gebracht. Maden, Grillen oder Ameisen sind nämlich echte Proteinbomben. Und im Vergleich zu Schwein, Kuh oder Rind ganz gehörig im Vorteil. Man braucht kaum Platz, um sie züchten. Sie stoßen weniger Klimagase aus. Und brauchen viel weniger Futter, um die gleiche Menge an Protein zu bilden. In Sachen Nachhaltigkeit und Klimafreundlichkeit, scheint es, sind Insekten also Superfood. Laut FAO ernähren sich bereits zwei Milliarden Menschen von fast 2.000 verschiedenen Insektenarten.

Bei so viel Vernunft möchte möchte man doch gleich eine frittierte Grille mit den Zähnen knacken.

Sie nicht? Mir geht es genau so. Und ich glaube sogar, auch vielen der zwei Milliarden angeblich praktizierender Entomophagen: Auf asiatischen Nachtmärkten, wo Grillen, Heuschrecken und Riesenwanzen als Mini-Schaschlik angeboten werden, habe ich nie Einheimische zugreifen sehen, nur junge, alkoholisierte westliche Touristen, die nichts besseres für eine Mutprobe fanden.

Woher kommt die Skepsis? Klar, viele Insekten gelten als Ungeziefer, als Anzeichen für unhygienische Zustände im Haus – und sogar als Krankheitsüberträger. Aber gilt das für Schwein und Huhn nicht ganz ähnlich? Und so ganz eindeutig ist die Ablehnung ja nun auch wieder nicht. Immer mehr Menschen sorgen sich um den Erhalt der Biene – oder hängen Insektenhotels in ihre Gärten. Ich halte am meisten von der These, nach der der Mensch einen allgemeinen Unwillen hat, Tiere zu essen. Den haben wir uns nur gegenüber ganz bestimmten, einzelnen Arten über Jahrtausende abgewöhnt.

Auf die vielen Start-ups, die derzeit in Insektennahrung machen, kommt also Überzeugungsarbeit zu. Am erfolgreichsten sind bislang die, die uns nicht das pure Insekt in den Mund schieben wollen. Aus den USA etwa kommen Chips aus Grillen-Mehl, beworben als proteinreich und praktisch fettfrei. Noch mehr Zukunft aber haben Insekten als Tiernahrung. Dazu gibt es neuerdings sogar eine Risikoeinschätzung der EFSA, das ist das europäische Amt für Lebensmittelsicherheit. Seit dem BSE-Skandal ist man nämlich vorsichtig, an Tiere tierische Proteine zu verfüttern. Die EFSA hat festgestellt, das etwa Hühner auch sonst Würmer und Maden lieben und es kein überhöhtes Risiko gibt. Sieht nach einer großen Chance für die Tiermehl-Wirtschaft aus.

Aber industriell verarbeitete Insekten – wollen wir uns das wirklich antun. Wenn man bedenkt, dass es sich um die uralte Lebewesen handelt. Ich sehe schon den nächsten Trend kommen. Der heißt dann „entopegan“.

Foto: William Ng | CC

Gnade dem Chlorhuhn

chlorhuhn

Haben Sie auch Angst vor dem Chlorhuhn? Diesem Monster, das im Zuge von TTIP die Einreise nach Europa erlaubt bekäme. Es ist das Übersymbol aller Freihandelsgegner und inzwischen gemästet mit allem, was man zu Recht gegen das Abkommen mit den USA haben kann. Aber haben Sie schon mal eins gegessen? Als ich diese Frage vor kurzem in einer Diskussion gestellt habe, ganz naiv, bekam ich als Reaktion ausschließlich sprachlose, empörte Gesichter. Ein nackter Broiler, abgewaschen mit einer Brühe aus Chlordioxid – es ist, als könnte allein der Gedanke daran, in eine gebratene Chlorhühnerkeule zu beißen, Gesundheitsschäden hervorrufen. Ich will nicht sagen, dass der Vogel das falsche Symbol ist. Aber es ist an der Zeit, diesem schön gruseligen Maskottchen der Anti-TTIP-Gemeinde ein paar Federn zu rupfen.

Vom Chlorhuhn wird geredet wie von einer invasiven Art. Als ob es sich um eine ähnliche Spezies handeln würde wie Kartoffelkäfer, Reblaus, pazifische Auster oder Wollhandkrabbe. Alles Eindringlinge, die, einmal in Europa angelangt, ein verheerendes Eigenleben entwickelt haben. Der bösartigste Migrant war übrigens der Kartoffelkäfer. Er war der Hauptschuldige für die Hungersnot in Irland Mitte des 19. Jahrhunderts.

Damals wurde auf der gälischen Insel kaum etwas anderes angebaut als Kartoffeln. Das Chlorhuhn allerdings wird tot sein, wenn es nach Europa kommt. Es legt keine Eier mehr und kann sich nicht mehr vermehren. Und sehr wahrscheinlich wird man als Verbraucher die Wahl haben zwischen einem Vogel aus Massentierhaltung, turbogemästet und mit Antibiotika vollgestopft, und einem Vogel aus Massentierhaltung, turbogemästet und mit Antibiotika vollgestopft, der kurz mit Chlorlauge abgeduscht wurde. Man kann davon ausgehen: Die Aufkleber „garantiert chlorfrei“ hat die europäische Geflügelzüchterbranche bereits für ihre Packungen gedruckt.

Aber ist das wirklich ein Unterschied? Im Grunde ist das Chlorhuhn nur der Ausdruck eines Kulturunterschieds in der Lebensmittelhygiene. Sein Pendant in Übersee ist der Rohmilchkäse. Den fürchten US-Amerikaner so wie Europäer den Chemiekadaver. Nichtpasteurisierte Milch: Nur ihr Einsatz gestattet es, dass beim Käsen eine Vielzahl von Pilzen und Bakterien angeregt werden. Wenn man es sich genau ansieht, ist das sicher auch für viele Europäer eine ekelerregende Vorstellung. Die sogenannte Lebensmittelsicherheit: Die versucht die europäische Politik vor allem nach dem Farm-to-Table-Prinzip herzustellen. Was größtmögliche Rückverfolgbarkeit aller Zutaten bedeutet: Wenn was schiefgeht, ist der Schuldige schnell gefunden, lautet die Idee.

In Amerika dagegen zählt mehr das Resultat. Also wird das Fleisch von Tieren, die unter großer Bedrängnis in ihren Exkrementen aufwachsen, eben desinfiziert, um Salmonellen und Kolibakterien oder andere Erreger abzutöten. Und das nicht nur beim Hühnerfleisch. Brüssel hat bereits 2013 erlaubt, dass Rindfleisch nach dem Schlachten mit Milchsäure gewaschen wird, so wie es in den USA Standard ist. Denn die hiesige Rindfleischindustrie will endlich auch wieder nach Übersee exportieren.

Wer gegen das Chlorhuhn argumentiert, setzt sich zuallererst für europäische Hygienestandards ein. Es sind aber ebenfalls Standards einer Nahrungsmittelindustrie. Und falls Sie fragen: Natürlich habe ich schon Chlorhuhn gegessen. Ich bin nicht krank geworden. Es schmeckte genauso fad und geschmacklos wie ein europäisches Huhn.

Foto: frankieleon | CC

Ausgelaugt

So viel Poesie hätte man den Brüsseler Beamten gar nicht zugetraut: „In der Form ähnelt die Breze zum Beten verschränkten Armen.“ So steht das in der EU-Verordnung, die das bayrische Brotzeitgebäck künftig unter Herkunftsschutz stellt. Was sich bayerische Brezel, Breze, Brezn oder – mit sogenanntem Deppen-Apostroph – Brez’n nennt, muss auch aus dem Freistaat kommen.

Und? Können sich die Bayern nun was darauf einbilden? Man muss wissen, die Laugenschleife ist im süddeutschen Raum kulturell tief verankert. Es gibt die Brezn und die Brezel. Das ist zuallererst eine mundartliche Unterscheidung. In Bayern heißt es Breze oder Brezn, genauso wie es immer Semmel heißt, wenn man Brötchen meint. Brezel, das sagt man aus Sicht der Bayern nur da, wo die Semmel das Weggle ist und es auch Spätzle gibt.

Sonst aber ist das Laugengebäck mindestens so baden-württembergisch wie bayerisch. Der Legende nach soll sich damit im 15. Jahrhundert ein Bäckermeister aus Bad Urach bei Nürtingen vor dem Strang gerettet haben. Er schaffte es, was der Fürst nie für möglich gehalten hatte, nämlich ein Gebäck herzustellen, „durch das dreimal die Sonne schien“. Vor dem Backen fielen die Teiglinge in einen Eimer heißer Lauge. Er backte die Brezeln trotzdem – und wurde begnadigt. So wenigstens erzählt man es sich im Schwäbischen.

400 Jahre später, so will es der andere Mythos, passierte dem Münchner Bäcker Anton Nepomuk Pfannenbrenner ein Versehen. Er tauchte die Brezenteiglinge nicht in Zuckerwasser, sondern in die Putzlauge für die Backbleche. Weil Pfannenbrenner beim Hoflieferanten angestellt war, wurde der Königshof auf das neue Backwerk aufmerksam.

Natürlich kennen wir die Breze schon länger. Sie gehört zu den ältesten Zunftsymbolen des Bäckerhandwerks – und das über den süddeutschen Raum hinaus. Über Jahrhunderte war sie eine beliebte Fastenspeise und wurde meist nur in der Zeit von Aschermittwoch bis Karfreitag gebacken. Die Volkskundler gehen davon aus, dass sie eine Weiterentwicklung des Ringbrotes ist, mit dem die ersten Christen das Abendmahl begingen. Der Name geht auf den lateinischen Begriff brachium (arm) zurück und erinnert an eine alte Gebetshaltung, bei der die Arme über der Brust verkreuzt werden.

Liest man Bäckereihandbücher durch, dann findet sich heute ein eindeutiges Unterscheidungsmerkmal für die bayerische und die schwäbische Breze – ganz passend übrigens für die Klischees. Da soll der Bäcker auf der einen Seite einen Schnitt am Brezelbogen machen, damit der Teig sich beim Backen feinsäuberlich nach außen wölbt. Auf der anderen Seite ist er dagegen nur verlangt, wenn die Breze an ihrer dicksten Stelle in einer breiten Linie aufreißt. Sie vermuten richtig: Das letztere ist das bayerische Rezept.

Lassen wir es bei diesen brezologischen Ausführungen bewenden. Es finden sich keine Hinweise, dass die Bayern irgendein Vorrecht auf das Laugengebäck hätten. Nur, dass sie besonders stolz darauf sind. Ist die Bezeichnung „bayerische Breze“ deshalb aber ein Qualitätssiegel? Schwerlich.

Ob Breze oder Brezel, frisch schmeckt sie am besten. Ich finde sogar, dass für die Begleiterin der Weißwurst eigentlich auch die Regel gelten sollte, dass sie das Zwölf-Uhr-Läuten nicht mehr erleben sollte. Eine „bayerische Breze“ kann außerhalb von Bayern deshalb immer nur irgendein aufgebackener Tiefkühl-Teigling sein. Und in Bayern wird kein Geschäft mit dem Zusatz noch darauf hinweisen wollen, dass es auch unbayerische Brezen geben könnte. Ich kaufe weiter beim Bäcker meines Vertrauens, Brezen, wenn er hat, aber auch Brezeln, wenn er sie denn so nennen will.

Foto:  thiswonthurt | CC

Ein großer Esser

Um die Verehrung dieses Mannes in Südafrika und die noch zu Lebzeiten einsetzende Trauer um Nelson Mandela zu begreifen, gibt es für mich nichts Besseres als ein Buch, das mir vor einiger Zeit in die Hände gefallen ist. Es heißt Hunger for Freedom, und die Autorin Anna Trapido versteht es als gastro-politische Biografie dieses großen Freiheitskämpfers.

coverNicht, dass dieser Mann früher ein übermäßiger Esser war. Das hätte man ihm angesehen. Und Trapido versammelt in diesem Buch auch nicht etwa die Lieblingsgerichte Mandelas. Dann wäre ihr Buch ziemlich geschmacklos. Es ist eine große Fleißarbeit, eine in Buchform gegossene Oral History. Zwar hat die Autorin dafür auch Mandela selbst, Familie und Weggefährten besucht, vor allem aber mit Kinderfreunden, Nachbarn und Bekannten, Wärtern und Mitgefangenen, Fahrern und Bediensteten des späteren südafrikanischen Präsidenten gesprochen.

Und sie macht dabei auch nicht den Fehler, der Frage nach dem „Du bist, was du isst“ so nachzugehen, als wolle sie das Wesen eines Politikers und Staatsmannes beantworten. Es ist vielmehr ein Vehikel, um anhand eines Menschen, über den so viele Zeugnisse existieren, die Befreiung aus der Apartheid und den Aufstieg der schwarzen Bevölkerung zu erzählen – und davon, wie einschneidend das für das einfache Leben war.

Hähnchencurry nach der Freilassung

Ich kenne die Geschichte Südafrikas nicht ausreichend genug, darum haben mich einige Schilderungen Trapidos etwas überfordert. Trotzdem vermittelt sie ein eindringliches Bild, wie die „Rassentrennung“ in den fünfziger Jahren bis in den letzten Winkel des Alltagslebens eingesickert war. So hatten schwarze Bürgerrechtler nur kleine Schnapsgläser in der Hand, um schnell austrinken zu können und bei einer Razzia nicht wegen illegalen Alkoholkonsums festgenommen zu werden. Und die Hochzeit Winnie und Nelson Mandelas 1958 war ziemlich einsam. Viele Freunde saßen im Gefängnis oder waren im Exil. Verblüffend ist auch, zu lesen, welche Aufregung und Hektik im Haus von Bischof Tutu ausbrach, als Mandela nach 27 Jahren Haft im Februar 1990 ein paar Tage früher freikam als erwartet und kein Willkommensessen vorbereitet war. Es gab dann Hähnchencurry und Rum-Rosinen-Eis zum Nachtisch. Auch welthistorische Ereignisse haben immer ganz banale Seiten.

Natürlich schildert dieses Buch auch einen sehr volksnahen und geselligen Mann, der immer viele Gäste um sich versammelte und der wahrscheinlich auch ein Menschenfänger war. Und es gibt eine Ahnung von der Aura, die Mandela zum Ende seiner Amtszeit entwickelte, und welch liebevolle, väterliche Autorität die Südafrikaner in ihm akzeptierten.

Essen ist nicht alles, und diese kulinarische Biografie wird wohl ein seltenes Experiment der kulinarischen Literatur bleiben. Vielleicht auch, weil nicht nur, vor allem aber in den Erzählungen und Briefen aus der Haft deutlich wird, wie wichtig es nicht nur fürs Überleben, sondern auch fürs Leben und Menschsein an sich ist, eine Mahlzeit zuzubereiten und gemeinsam genießen zu können. Nelson Mandela gewöhnte es sich an, Mitgefangene zu Geburtstagen mit einer aus Ersatzzutaten zusammengebrauten heißen Schokolade zu bewirten. Jeder einzelne Schluck muss ein kleines Fest der Freiheit gewesen sein.

Vor diesem Hintergrund habe ich auch die folgende Anekdote von Tokyo Sexwale gelesen, einem langjährigen Weggefährten und Mitgefangenen auf Robben Island. Er erzählt, wenn Mandela auch noch als Präsident seine Gäste zum Essen rief, habe er das immer mit den Worten getan: „Let’s go to battle.“ Doch, das sind Worte auch eines ganz großen Essers.

Foto: Darren Smith | CC

Zum Wohl, Frau Nahles

Kann es ein harmonischeres Bild der neuen großen Koalition geben? Die SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles und ihr Gegenüber von der CSU, Alexander Dobrindt, sitzen gemeinsam beim Italiener. Nahles nippt zurückgelehnt an einem Glas Rotwein, Dobrindt lächelt ihr zu. Die Aufnahme, die vorige Woche von der Bild-Zeitung veröffentlicht wurde, hat Potenzial, zum emblematischen Foto der neuen Regierung zu werden. Ganz ähnlich wie eines der Urbilder von Rot-Grün 1998: Joschka Fischer und Gerhard Schröder feiern da ausgelassen mit Sektflöten in der Hand. Oskar Lafontaine daneben steht schon ein wenig im Hintergrund.

nahlesdobrindt
Das Beweisfoto. Screenshot: bild.de

Es lässt sich viel in das aktuelle Bild hineinlesen: Wenn schon die beiden zum Essen gehen, zu deren Job eigentlich gehört, Aufeinandertreffen möglichst unverdaulich zu gestalten, wie ist es dann erst um den Rest von Schwarz-Rot bestellt? Und das zu einem Zeitpunkt, da die Sondierungsgespräche gerade erst am Anfang sind. Haben Hannelore Kraft und Angela Merkel am Ende schon gemeinsam Streusel gemacht? Und wenn ja, wie ist das einzuordnen?

Die Frage ist nicht zu beantworten. Wie der Politikwissenschaftler Lars Geiges vor kurzem in der Zeitschrift „Indes“ dargestellt hat, ist das kulinarische und gastronomische Feld in der Politologie ein bisher sträflich unbeachtetes Forschungsgebiet. Dabei gäbe es darüber viel zu sagen. Von Pressefrühstücken über Empfänge bis zu Dinners: das öffentliche Essen gehört noch heute so zum Geschäft der Mächtigen wie seit Jahrhunderten – auch wenn in Zeiten der Demokratie nicht mehr ein ganzer Hofstaat darauf wartet, zum Löffel greifen zu dürfen, weil der Regent den ersten Bissen getan hat.

Die Mahlzeit im politischen Raum, daran erinnert Geiges dankenswerterweise, ist praktizierte Herrschaft. Niemand hat das übrigens besser beherrscht als einer der größten Könner im Umgang der Macht, nämlich Helmut Kohl. Er scharrte oft mehrere Male in der Woche ein Küchenkabinett um sich, das aus Mitarbeitern wie Ministern bestand. Beim ausgiebigen Spachteln waren die üblichen Hierarchien schnell obsolet, so dass sich richtige Arbeitssitzungen entwickelten. Aber nirgendwo sonst erlaubte sich der Kanzler gleichzeitig, andere so abzukanzeln, wie zu Gelegenheiten, wenn die Teller abgeräumt waren.

Auch das sogenannte informelle Essen, das weiß jeder aus eigener Erfahrung, bietet unzählige Möglichkeiten der Machtausübung. Wer lädt ein? In welches Lokal? Trifft man sich am Ende auf neutralem Boden? Oder in Wahrheit doch im zweiten Wohnzimmer des Anderen? All dies wären interessante Informationen, um das Treffen von Nahles und Dobrindt besser beurteilen zu können.

Gesetzt, dass es im politischen Raum nur selten um Harmonie geht, stellen sich noch viel weitergehende Fragen. Beanspruchen hier zwei Esser als Erste die Definitionsmacht, dass es zu Schwarz-Rot keine Alternativen gibt, trotz aller Hürden, die vielleicht noch auftauchen? Sollen wir die, die gestern noch als Scharfmacher galten, morgen als Architekten der Koalition bezeichnen? Weil Dobrindt und Nahles jeder für sich schon über die Post-Merkel-Ära hinausdenken.

Auch wenn diese Fragen rhetorisch klingen: Sie sind pure Spekulation. Die Rituale und Routinen der politischen Mahlzeit sind weiße Löcher für den professionellen Beobachter. Wenn Zwei sich zum Essen treffen, dann menschelt es vor allem noch. Nur eines ist sicher: Es wird nicht das letzte Mal gewesen sein. Denn die Bild weiß auch, wer die Rechnung übernommen hat. Nicht etwa die Kanzlerin, sondern Dobrindt. In heutigen Zeiten kaum zu glauben, dass sich Frau Nahles da nicht revanchieren wollte.

Ansicht eines Clowns

Der Dialog im Werbespot klingt wie aus einem Kinderbuch, das böse ausgehen wird. Ein kleiner Junge beginnt: „Meine Mutter sagt, ich soll niemals mit Fremden sprechen.“ Der Mann neben ihm antwortet: „Deine Mama hat wie immer recht. Aber ich bin Ronald McDonald. Und jetzt gib mir was von deinem Shake.“ Es sind die ersten Worte, die der berühmteste Clown der Welt sprach.

Warum musste es gerade so ein August sein, fragt man sich heute: eine Gestalt, die nicht immer ein Sympathieträger ist, die vielen Menschen Angst einflößt, über die wir lachen, selten mit ihr. Wie kam eine kleine Fastfood-Kette dazu, ihre Hamburger ausgerechnet von so einem Hanswurst verkaufen zu lassen? Und das seit fünfzig Jahren.

2554630372_b4271374e8_mDer Geburtstag des Clowns ist ein recht wenig beachtetes Jubiläum. Zu Unrecht – bei einer solchen Biografie: Die allseits bekannte Pappnase ist in den vergangenen fünf Jahrzehnten zur Hassfigur eines aggressiven, weltumspannenden Konzerns geworden. Doch das liegt nicht nur an McDonald’s. Ronalds Geschichte ist auch die des Clowns in heutigen Zeiten.

Als Ronald im Herbst 1963 das erste Mal auf einigen TV-Kanälen im Raum Washington zu sehen war, auf vielen Geräten noch in Schwarz-Weiß, machte sich McDonald’s gerade daran, den amerikanischen Markt zu erobern. Ray Kroc, der erste Franchise-Nehmer, hatte den Brüdern McDonald das Unternehmen abgekauft und perfektionierte das System, Filialen nicht selbst aufzubauen, sondern Lizenzen an Restaurantgründer auszugeben.

Ein Jahr zuvor waren das erste Mal US-weit Anzeigen in überregionalen Magazinen geschaltet worden. Dass McDonald’s am Ende des Jahrzehnts ein börsennotiertes Unternehmen sein würde, mit den ersten Filialen in Europa, zeichnete sich noch lange nicht ab. Aber Ray Kroc hatte bereits eine neue Zielgruppe identifiziert, die ihm helfen sollte, sein Hamburger-Imperium aufzubauen: Kinder.

OriginalronaldmcdonaldDer Clown sollte sein engster Verbündeter werden. Selten wurde das so klar wie in dem ersten TV-Spot mit dem eingangs zitierten Dialog. Noch sah der Clown nicht so aus, wie wir ihn heute kennen. Es fehlten die übergroßen Schuhe und die rote Perücke. Der erste Ronald McDonald, übrigens gespielt von dem damals sehr bekannten TV-Meteorologen Scott Willard, ein US-Kachelmann der 60er Jahre, sah eher aus wie die Vogelscheuche aus dem „Zauberer von Oz“, mit einem Pappbecher auf der Nase und einem Tablett als Hut, darauf Hamburger und Pommes.

Clownerie betrieb er nie

Vier Jahre später wurde Ronald McDonald als Warenzeichen eingetragen. Geschützt waren fortan der rot-gelbe Overall, die rot gestreiften Strümpfe, die übergroßen roten Schuhe und ein weiß geschminktes Gesicht mit roter Perücke. Ein Lebensmittelkonzern reklamierte auf einmal das Recht auf eine Figur, die seit Jahrhunderten der Gesellschaft den Spiegel vorgehalten hatte, die tolpatschig durch Zirkusarenen lief, in Sketchen Neid, Liebe, Wut und Eifersucht freien Lauf gab. Und die einen zu einem Lachen brachte, das immer auch nah am Weinen war.

Der Clown ist keine so positive Gestalt, er war es nie. Ob Hanswurst, Kasper oder Pierrot, in sämtlichen Kulturen gibt es diese Figur, ob in der Antike, bei den alten Chinesen oder in nordamerikanischen Indianergesellschaften: karnevaleske Persönlichkeiten, eigentlich gesellschaftliche Outsider, mit unstillbarem Appetit auf all das, was die Gesellschaft tabuisierte. Ein Triebtäter, über den man lachte, solange er nur spielte.

Ronald McDonald übernahm von diesem Charakter zunächst nur das Kostüm. Clownerie betrieb er nie. „Chief Happiness Officer“ nannte ihn der Konzern. Sein Erfinder, Scott Willard, hatte sich das von Bozo abgeschaut, Moderator einer damals bei Kindern beliebten TV-Show. Bozo trat in blauem Kostüm, mit riesiger Halskrause, weißem Gesicht und einem überdimensionalen, feuerroten Haarkranz auf, war aber nicht mehr als ein gut meinender Sympathikus, der Kinder beschenkte, ihnen Geschichten vorlas und ziemlich vernünftig war. Eigentlich eine Figur wie der Weihnachtsmann. Ronald McDonald verkörperte noch eine kleine Spur mehr Anarchie.

Der bekannteste Kindergärtner der Welt

Mit ihm wurden die Kinder zu Botschaftern des Fastfood. Kleinkäsehoch wurde bei McDonald’s König. Die übergroße Plastikfigur am Eingang, bunt dekorierte Räume, in denen man Freunde zum Geburtstag einladen konnte und denen der Clown Tabletts mit Pommes und Hamburgern servierte. Noch bevor Kindergärten so lustig und bis zur Höhe der Pissoirs kindgerecht gestaltet waren, hatte McDonald’s das vorweggenommen. Und Ronald war zum nettesten und bekanntesten Kindergärtner der Welt geworden. Er hatte eine Autorität bekommen, die Eltern nur selten angreifen wollten. Schließlich handelte es sich um eine Witzfigur.

In den USA war der Clown in den 70er Jahren bei Kindern bekannter als Micky Maus. Vielleicht hätte es ewig so weitergehen können, wenn nicht zur selben Zeit das Böse am Clown wiederentdeckt worden wäre. 1980 war in den USA das Jahr einer aufsehenerregenden Mordserie. John Wayne Gacy, ein ehemaliger Koch in einem Restaurant von Kentucky Fried Chicken, hatte jahrelang Kinder als „Pogo der Clown“ auf Straßenparaden unterhalten. Immer wieder hatte er mithilfe des Kostüms bei Jungen Vertrauen erweckt, sie aber dann eingekerkert, vergewaltigt und anschließend umgebracht. Unter seinem Haus wurden 28 Leichen ausgegraben. Der Killer-Clown, wie ihn die Medien nannten, wurde zwölfmal zum Tode verurteilt und 1994 hingerichtet.

Von da an sollte der nette Perückenträger zu einer sinistren Persönlichkeit werden. Das färbte auch auf das Fastfood-Maskottchen ab. Die Düsseldorfer Punkband „Der Plan“ sang von „gefährlichen Clowns“, die als gelbrote Ronald McDonalds Deutschland in ein Junkland verwandeln wollten.

Das Böse im Clown

Und in der Popkultur wurde der Clown zu einer Horrorgestalt: In „Poltergeist“, 1982 produziert von Stephen Spielberg, erwacht eine Clownspuppe zum Leben und versucht den kleinen Jungen einer Vorstadtfamilie unters Bett zu ziehen. Vier Jahre später erschuf Stephen King die Figur des Pennywise für seinen Roman „Es“.

Stephen-Kings-EsDas Dunkle im Clown wandelte sich zur Chiffre für das Abgründige: In den grotesken Clownsbildern von Cindy Sherman, in unzähligen Filmszenen, in denen Bankräuber Clownsmasken tragen, als übellauniger, kraftmeiernder Krusty in der TV-Serie „Die Simpsons“. Mit weißem Gesicht und rot verschmiertem Mund mutierte der Joker, zuletzt 2008 verkörpert von Heath Ledger in der Batman-Verfilmung „The Dark Knight“, zum größten Kinoschurken aller Zeiten.

Rentner Ronald

Unterdessen ist aus Ronald McDonald der Hauptangeklagte für Übergewicht und Fehlernährung von Kindern weltweit geworden. Er wurde als Galionsfigur einer Globalisierung mit falschem Lächeln identifiziert. Immer öfter werden Ronald-Statuen vor Schnellrestaurants umgeworfen. 2004 entwarf der Street-Art-Künstler Banksy ein Graffito, auf dem Ronald McDonald und Micky Maus gemeinsam ein traumatisiertes, nacktes vietnamesisches Mädchen an den Händen halten.

Der Clown ist zu einem der beliebtesten Ziele der Adbusters-Bewegung geworden, der Kommunikationsguerilla, die Werbung verfremdet, einem Vorläufer von Occupy Wallstreet. Nach dem US-Einmarsch in den Irak kursierte eine Postkarte mit einem rotmundigen George W. Bush, darunter stand „Ronald McMurderer“.

Eigentlich ist das Maskottchen nun verbrannt. Um Kinder zu locken, hat McDonald’s mit dem „Happy Meal“ schon längst eine andere Strategie entwickelt. Obwohl US-Elterninitiativen schon seit Langem fordern, den Clown in Rente zu schicken, kann sich der Konzern nicht offiziell von ihm trennen. Faktisch aber ist der „Botschafter für einen aktiven, ausgeglichenen Lebensstil“, wie er inzwischen heißt, in Altersteilzeit. Zwar geistert er noch in Ronald-McDonald-Häusern und in Eltern-Kind-Einrichtungen herum, aus den Restaurants jedoch ist er weitgehend verschwunden.

Fotos: Rochelle Hartmann | CCjoiseyshowaa |CC, Wikipedia

Abseits der Natur

Jetzt also hässliches Gemüse. Man darf sich darüber freuen, 40 Prozent der Ernte sind im Obst- und Gemüsebau Ausschuss, weil verwachsen, krumm und schief, nicht ansehnlich genug. Bisher fast unverkäuflich. Landwirte pflügen die mangelhafte Ernte wieder unter, verkaufen sie an die Saftindustrie oder verarbeiten sie zu Tierfutter. Dieses Gemüse soll nun in Supermärkten eine Exotennische bekommen. Das sei eine „Herzensangelegenheit“ heißt es bei Edeka, ganz entsprechend dem Motto „Wir lieben Lebensmittel“. Vor allem ist es aber eine gute Geschäftsidee. Gemüse, das bisher wegen seines Wildwuches gar keinen Weg auf den Markt fand, nun genau deswegen ein bisschen teurer zu verkaufen als Einheitsgemüse: Die Überlegung verspricht Gewinn. Für Landwirte wie den Handel. Wenn der Verbraucher mitmacht.

Und dafür spricht viel. Die Abschaffung der europäischen Krümmungsnorm für Salatgurken hat nicht geholfen, die Skepsis gegenüber Obst und Gemüse zu verringern. Im Gegenteil. Tomaten, die sich Wochen im Kühlschrank halten, Paprika, die auf Steinwolle wächst, Mangos, Bananen, Ananas, die grün geerntet werden und bei der Fahrt übers Meer in Spezialcontainern ausreifen müssen: All das hat den allgemeinen Verdacht der „Unnatürlichkeit“ verstärkt.

Wenn man sich ansieht, wie Obst und Gemüse im Supermarkt ausgestellt sind, gleich am Eingang und meist in einer holzverschalten Umgebung, die Markthallen-Ambiente ausstrahlt, kann man sich vorstellen, wie wichtig das vegetarische Angebot für den Einzelhandel ist. Es hat Leuchtturmfunktion. Der Kunde soll auf den ersten Metern gesund einkaufen und möglichst natürlich, nur um dahinter umso mehr zu sündigen. Lässt ihn aber schon Obst und Gemüse vorsichtig werden, dann wird er noch weiteren Abstand zur Fleischtheke halten.

War aber je natürlich, was in den Obst- und Gemüsekisten lag? Die Frage muss gestellt werden, Authentizität hat sich im Lebensmittelbereich zum Verkaufsargument schlechthin gemausert. Alte Mühlen auf eingeschweißter Wurst, das Stichwort „regional“ allerorten, die Werbung mit dem „traditionellen Rezept“, jetzt das verwachsene Gemüse: Alles ist recht, an eine gute alte Zeit der Unverfälschtheit zu erinnern, in der die Nahrungswelt noch irgendwie in Ordnung war.

War aber überhaupt je natürlich, was da in den Obst- und Gemüsekisten auf den Kunden wartet? Diese Frage muss gestellt werden, Authentizität hat sich nämlich im Lebensmittelbereich – und nicht nur dort – zum Verkaufsargument schlechthin gemausert. Alte Mühlen auf eingeschweißter Wurst, das Stichwort „regional“ allerorten, die Werbung mit dem „traditionellen Rezept“, nun verwachsenes Gemüse: Jede mögliche Phantasie ist recht, an eine gute, alte Zeit der Unverfälschtheit zu erinnern, in der die Nahrungswelt noch irgendwie in Ordnung war. Das lässt schneller zugreifen.

Es ist eigentlich ein durchsichtiges Spiel, dieses ständige Versprechen eines Essens wie früher, wie bei Oma. Die heile Nahrungswelt hat es nie gegeben. Denn wir vergessen nur zu gern, dass es sich bei diesen Großmüttern um eine Generation handelt, die das Aufkommen von Dosenobst, Maggi-Würfel und und Pfanni-Knödel so begeistert in ihre Küche aufnahm. Wollen wir einfach nur zurück in die naiven Anfangsjahre der industriellen Lebensmittelrevolution?

Natur, das waren Obst und Gemüse nie. Und Bauern und Gärtner selten deren Bewahrer, viel öfter Gegenspieler. Schon lange bevor es Gentechnik gab. Sie züchteten aus einer kleinen unscheinbaren Knolle eine nahrhafte Stärkebombe, die Kartoffel, und aus hohem Wildgras kurzen Weizen mit schweren Ähren. Solche Kulturpflanzen werden heute von Agrarhistorikern gern als clevere Kulturfolger beschrieben, die sich intelligent an die Bedürfnisse von Homo Sapiens angepasst haben, um ihr Überleben zu sichern.

Aber man kann es auch so sehen, dass der Mensch sie in einen mephistofelischen Pakt gezwungen hat: Verändert Eure Natur nach meinen Bedarf, und Unsterblichkeit ist Euch sicher. Und es sind die moralischeren von uns Mephistos, die klagen, wenn die ein oder andere Sorte dieser Kreaturen sich dann doch nicht so anpassungsfähig beweist.

Natur, Ursprünglichkeit, Authentizität: Das sind, wenn man Lebensmittel betrachtet, die absolut falschen Kategorien. Sie verstellen den Blick. Auch die dick mit Erde verkrustete Linda-Kartoffel im Bioladen ist nicht natürlicher als eine geputzte Allerweltssieglinde im konventionellen Supermarkt. Beide sind vor allem nur ein Produkt menschlicher Kultur. Also auch ein Objekt von Moden und Trends. Da es um Kultur geht, darf und muss man über ihre Gestalt streiten und den Geschmack. Aber auch, wenn wir überleben wollen, wie diese Kultur dem Menschen am meisten nützt und – Achtung – der Natur am wenigsten schadet. Es geht um Ästhetik, und die Endung Ethik sollte darin groß geschrieben sein.

All der warenförmige Anschein von alter Ursprünglichkeit, der ganze Rückgriff auf die Natur verhindert so eine Diskussion. Denn was, wenn Neues zum Einsatz kommt, mit dem Altes erst gerettet werden kann? Ein Beispiel: In Holland entstehen gerade hochmoderne Gewächshäuser, beheizt werden sie mit Erdwärme und der Restenergie aus Kraft-Wärme-Kopplung. Gegossen werden die Pflanzen darin kontrolliert mit auf den Dächern gesammelten Regenwasser. Der Wasserverbrauch beträgt ein Bruchteil dessen im Freilandbaus. Nutzinsekte ersetzen Pestizide. Es sind hocheffiziente High-Tech-Anlagen, auf Nachhaltigkeit und möglichst wenig Ressourcenverbrauch ausgelegt. Nur hier, abseits der Natur, können manche der schädlingsanfälligen alten Sorten wiederbelebt werden. Oder Bio-Tomaten so billig wachsen – und auch reifen, dass man sie im Discounter verkaufen kann.

Gemüse aus Agroparks, schmackhaft, biologisch, aber mit CO2 aus Heizkraftwerken gefüttert; Organisches Obst aus urbanen Gärten, lokal angebaut: Das sind derzeit die vielversprechendsten Perspektiven, um wachsende Städte in Zukunft ressourcenschonend zu ernähren. Dafür werden die Grenzen zwischen Stadt und Land fallen müssen. Dabei hilft nicht, wenn Natur zu einem immer größeren Sehnsuchtsort ausgebaut wird.

Von modernen Glashäusern erfahren wir wenig. Warum wollen wir es nicht? Und wie weit darf die Gestalt von Lebensmitteln sich verändern, wenn sich ihr Anbau verändert? In Japan gelten quadratische Kürbisse als Delikatesse. Sie wachsen eng aneinandergereiht in eckigen Gläsern: Das spart Platz. Sind wir für eine solche Ästhetik bereit?

Erstmal kommt das wunderlich aussehende Gemüse in die Regale. Es ist nur eine Laune der Natur, die es missraten hat lassen, aber weder biologischer, regionaler oder fairer angebaut. Solange man bei Edeka und Co. nicht erfährt, welche Gemüse es sind, das dort geliebt wird, dann doch lieber wieder ab unter die Erde mit den Homunkuli.

Foto: mandymooo | CC
Dieser Text ist in einer kürzeren Fassung in der taz vom 22. Oktober 2013 erschienen.