Die neue Lässigkeit

Das neue „Guten Appetit“ heißt „Viel Spaß“. Jedenfalls begegnet es mir umso öfter, je teurer die Gerichte auf der Speisekarte sind. Wenn der Kellner das sagt, nach einem langen Vortrag, von dem ich nur behalte, dass der in Kräuteressig gebeizte Zander aus dem Greifswalder Bodden auf meinem Teller in einem Sud aus heimischen Pastinaken und Kerbel schwimmt und darauf Gewürzgurkenschaum thront, etwas Kardamom-Crunch darübergestreut wurde – wenn er mir dann also „Viel Spaß“ wünscht, muss ich erst einmal schlucken. Auf der Karte heißt das Gericht einfach „Zander, Gewürzgurke, Kardamom“. Was waren jetzt noch mal die gelben Kleckse im Sud? War da nicht auch noch von Roggen die Rede? Die Aufzählung all der Komponenten auf dem Teller gleicht heute IQ-Tests, bei denen man sich in Sekunden drei Dutzend Dinge merken soll. Und dann nach „Spaß“ verlangen. Geht’s noch?

Kellner mit Tablett
Ausschnitt aus einem Poster von Ludwig Hohlwein für das Restaurant im Deutschen Theater, München, 1907

Ich habe eigentlich nichts dagegen. Das „Guten Appetit“ hat mich schon immer gestört. Außerdem habe ich stets Appetit, wenn ich in einem Restaurant sitze, vor allem in einem guten. Und ein Koch, der weiß, er braucht meinen Heißhunger nicht als weitere Zutat, um mich von seinem Geschmack zu überzeugen, ist mir auch recht. In dem Wunsch nach „Viel Spaß“ steckt Selbstbewusstsein, Könnerschaft, und ja – ich nehme es auch als Aufforderung, mit dem Essen ein bisschen zu spielen. Kein Spaß ohne etwas Anarchie. Warum also nicht den Kardamom-Crunch aus dem Schaum picken oder vielleicht sogar ein Stück Zander ins Wasserglas tauchen, um den reinen Geschmack des Fischs zu erleben?

Das ist heute kein Ding der Unmöglichkeit. Es geht in feinen Lokalen viel lässiger zu als früher. Die weißen gestärkten Tischdecken sind weg, auch kompliziert gefaltete Servietten. Und die Livreen des Personals sind verschwunden, was manch einer bedauern mag. Ich finde es gut. Die Haute Cuisine ist niedrigschwelliger geworden, das marinierte Drumherum weicht der Konzentration auf Essen und Geschmack. Der Gast hat einfach mehr davon, wenn Bedienungen sich nicht darin üben müssen, die Cloches, diese silbernen Glocken, so synchron vom Teller zu ziehen, als handelte es sich um eine olympische Disziplin. Wenn sie stattdessen qualifiziert etwas über die Küche des Lokals erzählen können. Da wechselt man im Laufe eines Abends bisweilen sogar zum intimen Du. Ich habe viel Respekt vor dieser neuen Nonchalance. Sie ist mutig und aus Sicht der Servicekräfte harte Arbeit. Denn das Risiko, im Umgang mit den Gästen Grenzen zu übertreten, ist hoch, höher jedenfalls als bei der uniformen, distanzierten Höflichkeit von früher.

Nur, ich bekomme die neue Nähe nicht mit der Mode zusammen, Speisekarten so sparsam wie nur möglich zu formulieren: „Zander, Gewürzgurke, Kardamom“ oder „Zitronenhuhn, Petersilie, Amalfi-Zitrone“. Man könnte das freundlich als neue Sachlichkeit bezeichnen. Aber diese Lust am Dreiklang verdirbt mir manchmal den Appetit. Sie ist distanziert, blasiert, unterkühlt. Und sie führt auf den Tellern übrigens oft zu einem Einerlei aus etwas Festem, etwas Flüssigem, etwas Cremig-Schaumigem und Crunch. Nur die Aromakombinationen ändern sich.

Ich warte nur darauf, dass mir bald in einem bayerischen Gasthof der Schweinebraten mit Knödeln als „Schwein, Kohl, Weizen“ auf der Karte angeboten wird. Wenn der Teller käme, müsste der Kellner dann zu länglichen Referaten ansetzen, und ich müsste Angst vor dem Erkalten des Bratens haben.

Foto: MCAD Library | CC

App ins Restaurant

Neulich kam ich in ein Restaurant und sah, ich muss sofort wieder gehen. Die Tische waren leer, leichte Musik hallte unter der Decke. Nur am Tresen standen, fast wie auf dem berühmten Gemälde von Edward Hopper, drei junge Männer und hatten ihre würfelförmigen Rucksäcke auf den Barhockern geparkt.

Wussten Sie eigentlich, dass Edward Hopper auf seinen Gemälden oft Restaurantszenen abgebildet hat, nicht nur in Nighthawks von 1942, dabei aber ganz selten ein Teller zu sehen ist, geschweige denn etwas darauf?

Beim Verlassen des Lokals befiel mich eine grauenhafte Vision. Die drei Männer waren Fahrradboten für zwei neuartige Restaurantlieferdienste. Bisher musste man ja meist selbst das Haus verlassen, um sich um die Ecke eine Pizza zu holen. Oder es kam der Sohn des Wirts, wenn man beim Inder bestellte. Die Idee von Deliveroo und Foodora ist, das Liefergeschäft abzukoppeln, mit so viel Restaurants wie möglich zusammenzuarbeiten, eine megalomane Speisekarte im Internet oder besser als Smartphone-App anzubieten und so praktisch jedes Gericht auf den heimischen Esstisch liefern zu können.

Premium Takeaway, so nennen sie das Konzept, und sie haben damit so viel Startkapital eingesammelt, dass die ganze Stadt, in meinem Fall Berlin, mit Werbeplakaten gepflastert ist. So ein Lieferdienst hat große Vorteile, zum Beispiel, wenn ein Paar oder eine Familie sich nicht darauf einigen kann, wohin man am Abend ausgeht. Dann bestellt Papa im Steak-Restaurant, Mama beim Italiener, die Tochter vegan und der Sohn beim Tex-Mex-Laden, Nachos extra. In meiner Vision sah ich Männer mit isolierten Würfelrucksäcken in sonst leeren Restaurants Schlange stehen und der Reihe nach an Haustüren klingeln. Und ich fragte mich: Wo zum Teufel soll ich in Zukunft essen? Muss ich mich doch in leere Restaurants setzen?

Restaurants sind schließlich nicht zum Essen da, vielleicht sogar am wenigsten. Aber das Essen ist es, was die verschiedensten Menschen zusammenführt, zum Reden bringt, ein kleines vorübergehendes Soziotop formt, das Erlebnis schafft, weil man etwas teilt: einen Tisch, einen Raum, die Bedienung, vielleicht sogar dasselbe Gericht. Für mich gehört das Miteinander so zum Genuss wie ein Wirt, der mit Leidenschaft erzählt, warum seine Fettuccine die besten der Welt sind. Darauf soll ich verzichten?

Neulich kam ich in ein anderes Restaurant, da waren die Lichter wie Spots nur auf den Tisch gerichtet. Die Gesichter der Gäste lagen im Dunkeln. Und die Bedienung konnte ich nur nach der Stimme orten. Man sollte nur das Essen sehen. Auch da kam mir der Gedanke: Werden Restaurants irgendwann mal nur noch Showrooms ihrer Speisekarte sein, so wie der Apple-Store? Halt. So weit ist es längst nicht. Es gibt ja noch ganz andere Bestell-Apps, nämlich für Restauranttische. Auch ich marschiere inzwischen nicht einfach mehr in ein Lokal, sondern mache auf Quandoo oder Opentable oft kurzfristig einen Tisch klar. In einer Großstadt wie Berlin ist das nötig, vor allem ums Wochenende herum. Die Reservierungswut ist immens, man kann jederzeit kostenlos stornieren.

Doch es gibt auch Wirte, die sich inzwischen beklagen, auf wie vielen reservierten Tischen sie sitzen bleiben. Was macht die Appisierung mit der Restaurantwelt? Mir werden Lokale immer lieber, die Reservierungen ablehnen und auch nicht außer Haus liefern. Ich hoffe, sie sind die Zukunft.

Foto: Sam Saunders | CC

Zum Wohl, Frau Nahles

Kann es ein harmonischeres Bild der neuen großen Koalition geben? Die SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles und ihr Gegenüber von der CSU, Alexander Dobrindt, sitzen gemeinsam beim Italiener. Nahles nippt zurückgelehnt an einem Glas Rotwein, Dobrindt lächelt ihr zu. Die Aufnahme, die vorige Woche von der Bild-Zeitung veröffentlicht wurde, hat Potenzial, zum emblematischen Foto der neuen Regierung zu werden. Ganz ähnlich wie eines der Urbilder von Rot-Grün 1998: Joschka Fischer und Gerhard Schröder feiern da ausgelassen mit Sektflöten in der Hand. Oskar Lafontaine daneben steht schon ein wenig im Hintergrund.

nahlesdobrindt
Das Beweisfoto. Screenshot: bild.de

Es lässt sich viel in das aktuelle Bild hineinlesen: Wenn schon die beiden zum Essen gehen, zu deren Job eigentlich gehört, Aufeinandertreffen möglichst unverdaulich zu gestalten, wie ist es dann erst um den Rest von Schwarz-Rot bestellt? Und das zu einem Zeitpunkt, da die Sondierungsgespräche gerade erst am Anfang sind. Haben Hannelore Kraft und Angela Merkel am Ende schon gemeinsam Streusel gemacht? Und wenn ja, wie ist das einzuordnen?

Die Frage ist nicht zu beantworten. Wie der Politikwissenschaftler Lars Geiges vor kurzem in der Zeitschrift „Indes“ dargestellt hat, ist das kulinarische und gastronomische Feld in der Politologie ein bisher sträflich unbeachtetes Forschungsgebiet. Dabei gäbe es darüber viel zu sagen. Von Pressefrühstücken über Empfänge bis zu Dinners: das öffentliche Essen gehört noch heute so zum Geschäft der Mächtigen wie seit Jahrhunderten – auch wenn in Zeiten der Demokratie nicht mehr ein ganzer Hofstaat darauf wartet, zum Löffel greifen zu dürfen, weil der Regent den ersten Bissen getan hat.

Die Mahlzeit im politischen Raum, daran erinnert Geiges dankenswerterweise, ist praktizierte Herrschaft. Niemand hat das übrigens besser beherrscht als einer der größten Könner im Umgang der Macht, nämlich Helmut Kohl. Er scharrte oft mehrere Male in der Woche ein Küchenkabinett um sich, das aus Mitarbeitern wie Ministern bestand. Beim ausgiebigen Spachteln waren die üblichen Hierarchien schnell obsolet, so dass sich richtige Arbeitssitzungen entwickelten. Aber nirgendwo sonst erlaubte sich der Kanzler gleichzeitig, andere so abzukanzeln, wie zu Gelegenheiten, wenn die Teller abgeräumt waren.

Auch das sogenannte informelle Essen, das weiß jeder aus eigener Erfahrung, bietet unzählige Möglichkeiten der Machtausübung. Wer lädt ein? In welches Lokal? Trifft man sich am Ende auf neutralem Boden? Oder in Wahrheit doch im zweiten Wohnzimmer des Anderen? All dies wären interessante Informationen, um das Treffen von Nahles und Dobrindt besser beurteilen zu können.

Gesetzt, dass es im politischen Raum nur selten um Harmonie geht, stellen sich noch viel weitergehende Fragen. Beanspruchen hier zwei Esser als Erste die Definitionsmacht, dass es zu Schwarz-Rot keine Alternativen gibt, trotz aller Hürden, die vielleicht noch auftauchen? Sollen wir die, die gestern noch als Scharfmacher galten, morgen als Architekten der Koalition bezeichnen? Weil Dobrindt und Nahles jeder für sich schon über die Post-Merkel-Ära hinausdenken.

Auch wenn diese Fragen rhetorisch klingen: Sie sind pure Spekulation. Die Rituale und Routinen der politischen Mahlzeit sind weiße Löcher für den professionellen Beobachter. Wenn Zwei sich zum Essen treffen, dann menschelt es vor allem noch. Nur eines ist sicher: Es wird nicht das letzte Mal gewesen sein. Denn die Bild weiß auch, wer die Rechnung übernommen hat. Nicht etwa die Kanzlerin, sondern Dobrindt. In heutigen Zeiten kaum zu glauben, dass sich Frau Nahles da nicht revanchieren wollte.

Du sollst Dir kein Bild machen …

Macht diese Kolumne dick? Mit dieser Frage ist es mir ernst. Ich habe nämlich gelesen, dass eine kanadische Psychologin vor den gesundheitlichen Gefahren von „Food Porn“ warnt.

Food Porn bezeichnet ein neuartiges Phänomen in den sozialen Medien. Auf Facebook oder Instagram sieht man immer öfter Gerichte auf leicht überbelichteten Smartphone-Aufnahmen. Es ist beliebt zu fotografieren, was man vor sich auf dem Tisch hat, um es anschließend übers Netz der Bekanntschaft mitzuteilen. Das hat Valerie Taylor, Psychiaterin an der Frauenklinik von Toronto, alarmiert. „Food Porn“ könne zu Essstörungen führen, meint sie.

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Manchmal blitzt es. Das ist dann unangenehm

Fresssucht oder Bulimie, ausgelöst, weil man zu viel Essen vor die Augen gesetzt bekommt: Das besorgt auch mich. Schließlich teile ich hier regelmäßig mit, was bei mir in die Töpfe wandert. Und ich habe womöglich unzählige Mitesser, die – am Ende der Kolumne angelangt – den Gedanken nicht verscheuchen können, dass der Mensch nicht vom Wort allein leben kann.

Denn es ist doch was dran an der Beobachtung von Frau Taylor. Wenigstens in den Restaurants der Berliner Szene-Viertel fällt es kaum noch auf, wenn Gäste ihr Smartphone zücken. Egal, ob mittags bei vegetarischen Maki-Rollen oder abends in einem teuren Restaurant, wenn confierte Stubenküken auf Spargelschaum serviert werden. Es macht immer wieder „Klick“. Manchmal blitzt es auch. Das ist dann doch etwas unangenehm.

Vor ein paar Tagen erlebte ich so einen Food-Pornografen hautnah. Ich saß mit einem Bekannten am Nebentisch. Der Mann, ebenfalls in Begleitung, ließ sich glücklicherweise nicht von uns stören. Wir konnten ihn ausgiebig beobachten, also so etwas wie Foodporn-Porn betreiben. Es war faszinierend, wie schnell und routiniert er bei jedem Gang zum Handy griff, es vertikal über jeden Teller hielt und abdrückte. Wir stellten uns vor, wie viel ähnliche Aufnahmen er wohl schon in seinem Handy gespeichert hatte. Sicher eine ganze Bibliothek.

„Meinst du, man kann sich so besser an ein Gericht erinnern, um es vergleichen oder nachkochen zu können?“, fragte ich irgendwann. Mein Bekannter, ebenfalls ein Kulinariker, konnte sich das nicht vorstellen. Er erzählte, eine Zeit lang habe er sich zu solch dokumentarischen Zwecken in Restaurants die Speisekarte zum Mitnehmen erbeten. Er mache das nur noch selten, bei ausnehmend guten Erlebnissen und wenn der Teller zu schnell leer geworden sei.

Das leuchtete mir ein. Wir begannen, uns gegenseitig von unseren ersten Malen zu erzählen. Von der ersten Avocado, dem ersten Hummer, dem ersten guten Risotto, die wir in unserem Leben genossen hatten. Meist konnten wir uns auch gut an die Umstände, den Ort der Mahlzeit und noch mehr erinnern. Es war ein höchst angenehmes Tischgespräch. Wir waren dem Fotografen ein paar Tische weiter am Ende sogar dankbar. Er lichtete gerade das Rharbarber-Crumble ab.

Valerie Taylor allerdings macht zwischen uns Dreien keinen Unterschied. Die Psychiaterin hat in ihrer Praxis beobachtet, dass manche Menschen Mühe haben, Essen nicht als Schlüsselelement in ihrem Leben anzusehen, weil sie nur noch interessiere, „was sie essen, wann sie gegessen haben und wann sie wieder essen werden“. Ob das zu dick macht oder zu dünn, Studien hat sie dafür bisher keine. Doch ich will ihr für diese letzten Zeilen einmal glauben. Denn ich gehöre wahrscheinlich auch zu diesen Gestörten.

Zum Glück dauert diese Kolumne nur eine Spalte. Also bitte: Lesen Sie weiter, blättern Sie weiter. Gehen Sie ausnahmsweise nicht an den Kühlschrank.

Foto: missmeng | CC