Ein Königreich für eine Backpflaume

Wo sind bloß die getrockneten Aprikosen hin? Ich bin mir sicher, ich habe doch noch welche. Die Tüte muss zwischen dem Paket mit den Haselnüssen und meinem Vanille-Zucker-Vorrat oben im Hängeschrank stehen. Das ist der vorgesehene Platz. Da steht sie immer. Aber jetzt sehe ich da ein Paket Milchreis. Die Nachbarschaft ist nicht abwegig für so eine Dessertzutat, aber mit Milchreis kann ich gerade nichts anfangen. Ich brauche Aprikosen. Und zwar jetzt. Die Graupen stehen schon auf dem Herd.

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Nahe San José in Kalifornien trocknen Pflaumen in der Sonne. Eine Postkarte um 1900

Fehlen bestimmte Zutaten in meinem Küchenschrank, überkommt mich regelmäßig mittlere Panik. Es müssen die gleichen Angstzustände sein, die meine Großmutter getrieben haben. Ihr kulinarischer Nachlass bestand aus Schachteln voll von Zimtstangen, Vanillezucker und Mandelblättchen. So viel, wie sie kein Mensch in einem normalen Leben verbrauchen kann. Klar, meiner Großmutter steckten noch die Notzeiten nach dem Krieg in den Knochen. Aber mir?

Mich treibt wahrscheinlich nur eine bestimmte Vorstellung von Vollständigkeit, die ich in der Küche brauche. Es gibt Menschen, die können sich kaum überwinden, das Auto nur ein paar Meter vorwärts zu bewegen, wenn der Tank schon halbleer ist. Einem Handwerker, dem die Achter-Schrauben ausgegangen sind, geht es vielleicht ebenso, oder einem Gärtner, wenn er im tiefsten Winter entdeckt, dass das ganze Blaukorn verbraucht ist. Wie soll man bitte Sachen gut machen, wenn man nicht komplett ist?

Für manche Zutaten habe ich einen siebten Sinn. Salz, Kaffee oder Olivenöl etwa sind mir noch nie ausgegangen. Die habe ich regelmäßig in der Hand, mache also ständig Inventur – und kaufe rechtzeitig nach. Trockenhefe, Schokostreusel und Maronencreme fallen dafür in die Kategorie ganz selten benutzter Produkte. Brauche ich die, gehe ich sofort einkaufen, nur um später festzustellen, dass noch Vorrat da ist, von einer Backsession von vor zwei Jahren und einer von vor vier Jahren und … ich eigentlich mal etwas damit anfangen müsste, damit meine Hinterbliebenen nicht irgendwann seltsame Gedanken über mich anstellen.

Ich würde lieber mit meinem Hang zu Trockenobst als einer Vorliebe für Maronencreme oder Schokostreusel in Erinnerung bleiben. Das Dörrobst, auf das ich keinesfalls verzichten kann, sind Backpflaumen, getrocknete Aprikosen und Sauerkirschen sowie Korinthen. Pflaumen und Aprikosen verwende ich meist bei Fleischgerichten, sie kommen mit in den Schmortopf oder in die Kasserolle in den Ofen. Sie geben dem Gericht einen zarten Schmelz. Ich mag es, wenn zwischen Bissen von mürben Fleisch ein Stück Obst, dass mit Bratensaft vollgesogen ist, weich auf der Zunge zermatscht. Ich finde es faszinierend: Dunklem Fleisch wie Rind oder Wild geben Backpflaumen eine fruchtigere, leichtere Note, schnorrt man Kaninchen oder Hühnchen damit, geben die Früchte mehr Schwere. Aprikosen dagegen ziehen Gerichte immer auf eine blumige, orientalische Seite, ich verwende sie vor allem zu Lamm. Korinthen und Sauerkirschen regieren dafür in meiner vegetarischen Küche, in Reis und Currys.

Getrocknete Früchte sind Aromapakete. Ich habe neulich in einem Zeitrafferfilm gesehen, wie ein Büschel saftiger Trauben in der Sonne zu einer kleinen Handvoll Rosinen verschrumpelte. Es kam mir vor, als könnte ich beobachten, wie der Geschmack in den Schalen langsam konzentriert und verdichtet wird. Und auch der Zucker. Dörrobst liefert die Süße, die ein Gericht oft erst richtig vollmundig macht. Deshalb geize ich inzwischen etwas. Schon zwei getrocknete, fein gehackte Aprikosen in einem Fenchelrisotto für vier Personen verändern alles.

Man muss solches Obst übrigens gar nicht so lange einweichen, wie ich bisweilen in Rezepten lese. Von Stunden und Nächten ist da manchmal die Rede. Sie beziehen sich auf eine Zeit, in der etwa Backpflaumen so trocken waren, dass sie auch als Wurfgeschosse hätte dienen können. Heute dominiert aromaverpacktes „Soft“-Obst die Supermarktregale. Es ist leicht zu schneiden. Gießt man heißes Wasser an, sind auch solche „Soft“-Pflaumen in zehn Minuten anständig aufgequollen.

Jetzt hätte ich fast vergessen: Berberitzen gehören auch in die Reihe von Trockenobst, das ich hier vorstellen wollte. Sie sind die säuerlichsten Vertreter, toll in Reis oder Couscous. Ich verwende sie gern, aber selten. So selten, dass ich vermute, irgendwo könnte ich noch einen erklecklichen Vorrat haben. Mal sehen, vielleicht passen sie auch zu Graupen.

Foto: San José Library | CC