Das ist keine Science Fiction

Die haben’s gut, denke ich als ich die Stufen zum Kunstgewerbemuseum auf dem Kulturforum hochsteige. Für die Berliner Straßenbäume ist der trockene Sommer ein Stresstest, schon beginnt das wenige Laub zu welken – und hier hängen die Obstbäume am Tropf. Neben jedem Apfelbäumchen steht ein Ständer, aus Infusionsbeuteln läuft grüne Flüssigkeit über einen Schlauch ins Erdreich. Es ist ein sehr ambivalentes Bild, das einen vor der Ausstellung „Food Revolution 5.0“ empfängt, sie läuft noch bis Ende September, und das, was einem in seiner Einfachheit sogar am meisten zu denken gibt. Muss die Natur auf die Krankenstation, damit wir uns in Zukunft noch ernähren können?

Urbane StreuObstWiese (don’t sit under the apple tree with anyone else but me), 2018 © Matton Office, Ton Matton/Björn Ortfeld (design)

Die Zukunft der Ernährung, sozusagen Food Fiction, das ist das eigentliche Thema der Schau. Denn so wie bisher kann es nicht weitergehen. Was und wie wir essen, geht zu sehr auf Kosten des Planeten, der hohe Fleischkonsum, der sich massive Düngemittel- und Pestizideinsatz in der Agrarindustrie. Und die Probleme potenzieren sich, je rasanter die Menschheit wächst und sich das westliche Ernährungsmodell um den Globus ausbreitet.

Auf drei Etagen sind über 30 Werke von Künstlern und Designern ausgestellt, mit sehr unterschiedlichen Antworten, einige lakonisch-spielerisch, andere bitterernst, alle aber – und das fällt dann doch auf: sehr politisch. Utopische und dystopische Entwürfe wechseln sich ab.

Carolin Schulze, Hase aus einer Mehlwurmpaste, 2014, © Carolin Schulze
Carolin Schulze, Hase aus einer Mehlwurmpaste, 2014, © Carolin Schulze

Vor dem Algenanzug beispielsweise kann einem richtig gruseln: Ein Gewirr von Schläuchen, die man sich wie einen Hoodie über den Oberkörper stülpt. Die Algen darin verrichten allein aufgrund der Sonneneinstrahlung ihre Arbeit, das Phytoplankton wird über einen Katheter direkt in den Magen geführt. Jeder mit dem eigenen Gewächshaus am Leib, nach diesem Farm-to-Belly-Prinzip wäre die menschliche Ernährung wahrscheinlich für alle Zeiten gesichert, aber das Kulinarisch-Lukullische, was wird daraus? Was aus dem Koch? Und was aus Wasser und Land, wenn sie kein Essen mehr liefern müssten, nicht mal mehr Genmais oder Zuchtlachs?

Und ganz so irre Science Fiction ist das gar nicht. Algen werden längst in Bioreaktoren eingesetzt, um Solarenergie zu bündeln, nur die Schnittstelle zum Verdauungstrakt fehlt noch. Künstliches Fleisch aus dem 3D-Drucker: An der Vision arbeiten längst Startups in Kalifornien und Israel. Und ist die Idee so verwegen, Hühnern im Massenstall Virtual-Reality-Brillen aufzusetzen und ihnen eine artgerechte Umgebung vorzuspiegeln? Wir finden es ja auch nicht unnatürlich, dass der Mensch sein Leben immer stärker in die Virtualität verschiebt.

Mottenspeisenkarte ©  Center For Genomic Gastronomy 2016

Am längsten aber stand ich vor einer Arbeit, die tatsächlich reine Phantasterei ist. Sie untersucht den menschlichen Körper als Nahrungsquelle für andere Arten. Wie können wir zurückgeben, was wir nehmen, nicht nur in dem wir Blut für Mücken liefern oder Hautpartikel für Doktorfische? Die Macher des Center for Genomic Gastronomy in den USA haben ein experimentelles Restaurant entworfen, in dem Menschen ihr Leben lang bis zum natürlichen Tod auf verschiedenen Ebenen Tieren zum Melken und Anknabbern angeboten werden. Das ganze in so schöner Umgebung und wie ein Wellnesstempel konzipiert, Pools und Lounges inklusive: Gäbe es dieses Lokal, ich würde mich sofort als Probant melden.

Es ist eine Ausstellung, die zeigt, Essen ist längst keine Privatsache mehr. Und das Problem ist so groß, es gibt keine einfachen Lösungen. Immer wieder stößt man auf leere Tische und Flächen, wie als Botschaft der Ausstellungsmacher: Wir hätten gern noch mehr, noch wildere Ideen gehabt. Ich bin sicher, Fortsetzung folgt.

Postkarte
© Cyan

Und übrigens: Für vier Tage zeigt der Sommer Food Markt am Kulturforum, wie die Zukunft schmecken kann: Mit Gastronomie, Marktstände, Workshops und Gesprächen. Von 21. bis Montag, den 24. Juni 2018

 

Foto auf der Startseite:  Austin Stewart, Second Livestock, 2014, © Austin Stewart

Füttert mich!

Ich soll in Zukunft vorsichtig sein mit dem Begriff „Füttern“. Er ist belastet, wie ich eben dem Leserbrief von Herrn S., Ausbilder für Altenpflege, entnehme. S. schreibt mir zu einem Artikel über den über den Alltag in der Pflege. Da wird erzählt, was für eine intime und sensible Tätigkeit es ist, alten Menschen das „Essen zu reichen“. Was für eine abstrakter, bürokratischer Ausdruck für etwas so Sinnliches, dachte ich, der Redakteur des Artikels, und machte daraus „Füttern“, bevor der Bericht in Druck ging.

Herr S. reagierte sogleich und mehr als erbost. Der Begriff „Füttern“ werde im Zusammenhang mit der Pflege schon seit über zwanzig Jahren nicht mehr benutzt. Er setze Menschen mit Tieren gleich, die man „füttert“, in dem sie „Futter“ zum „Fressen“ bekommen. Das sei herabwürdigend und eigentlich genau das Gleiche wie die Verwendung des N-Wortes. Ich war erstaunt. Tatsächlich? Muss ich also auch überlegen, dachte ich, ob das F-Wort in weiteren menschlichen Zusammenhängen falsch ist, etwa wenn Kleinkindern das Essen angereicht wird.

Interessanterweise kam S. Brief genau an dem Tag, als eine Solidaritätswelle zu Gunsten eines Staffordshire-Mischlings über die Republik rollte. Chico hatte zwei Menschen totgebissen und sollte nun eingeschläfert werden sollte. Hunderttausende verlangten in einer Petition Freispruch für die arme Kreatur. Juristisch gesprochen wegen der fehlenden Schuldfähigkeit des Hundes. Chico sollte in eine spezielles Tierheim gegeben werden, strafrechtlich gesehen also: in dauerhafte Sicherungsverwahrung. Welche Dimensionen die Humanisierung von Tieren immer wieder erreicht, dachte ich. Chico musste dennoch sterben. Es bleibt daher eine theoretische Frage, ob er an Menschen geraten wäre, der für seine Ernährung das F-Wort abgelehnt hätte.

Natürlich verstehe ich das Argument des Pflegeausbilders. Menschliches Essen ist nicht einfach nur animalische Nahrungsaufnahme, sondern kulturelle Tätigkeit. Und einen alten Menschen nur zu „füttern“ hieße, ihm die Fähigkeit zu dieser Kulturleistung abzusprechen.

Trotzdem, lieber Herr S., möchte ich gefüttert werden und nicht das Essen gereicht bekommen, wenn ich alt bin und keine Gabel mehr halten kann. Ich möchte einen Menschen vor mir sitzen haben, der danach sieht, dass ich mir die Zunge nicht verbrenne, der mir das Essen so in den Mund gibt, dass ich es schlucken kann, es nicht hinausläuft, der mich – vielleicht das Wichtigste – mit guter Absicht anlügt und das Zeug auf dem Löffel als lecker ausgibt. Das ist das Mindeste, denn vor dem Heimfraß selbst graust mir schon.

Vielleicht, so mein Traum, kann derjenige, der mich füttert, ein Essen daraus machen – indem er auf ein Augenzwinkern von mir den faden Apfelbrei weglässt oder sogar ein Löffel Nudelsuppe mitisst. Dann hätte er mir nicht nur irgendwas gereicht, wir hätten gemeinsam gegessen.

Mein Punkt ist: Kultiviert ist die menschliche Nahrungsaufnahme vor allem, weil sie soziale, emphatische Tätigkeit ist. Wir essen gemeinsam, wir teilen und füttern, weil wir uns für die Nahrung nicht mehr gegenseitig an die Gurgel gehen wollen. Essen reichen – das können vielleicht schon heute Roboter. Aber Füttern, mit Hingabe? Das wird noch dauern.

Ich beispielsweise füttere ständig. Wenn ich koche, suche ich mir gerne ein Opfer, dem ich ein Löffel zum Kosten in den Mund stecke. Das geht nicht mit jedem. Denn die Art der Essensreichung macht das Gegenüber wehrlos. Wie sehr, spüre ich selbst, wenn mir ein Löffel vor die Nase gehalten wird. Mich füttern, da lasse ich nur wenige ran.

Foto: Sassy Bella Melange | CC

Was ist ein gutes Croissant?

Eigentlich ist das Croissant auch nur ein Butterbrot, aber eines der am meisten kunstfertigen. Im besten Fall legt der Bäcker einige Zeit und viel Mühe hinein, Butter und Teig so zu verbinden, dass am Ende ein Gebilde entsteht, das seine Zutaten vollständig verbirgt. Auf solche Gedanken kommt man, wenn man wie ich zwei Tage durch Paris läuft, in einem kleinen Pulk aus Müllern, Bäckern und sonstigen Experten mit einem ausgeprägtem Interesse für Brot, und alle zehn Minuten eine neue Boulangerie betritt und die Croissants probiert.

Die Hörnchen werden vor den Augen gedreht, zerbrochen, beschnuppert, anschließend lang zerkaut, bis sich auf der Zunge Süße und am Gaumen Aromen zeigen. Und weil hinter oder im Keller unter den Verkaufstresen noch richtige Backstuben befinden, schmeckt jedes Croissant anders. Eines sieht innen glasig-speckig aus, ein anderes ist im Mund fast knödelig, Beim dritten ist die Kruste so zart und fragil, dass sie beim ersten Bissen explodierend zerbröselt; äße man es im Park, die Tauben hätten ihren Spaß. Es gibt Exemplare, die nur einen Hauch von Butter verbreiten, andere sind buttrig, karmellig, ja im Vergleich schon leicht käsig fett. Aber alle sind besser als das, was wir Deutsche von daheim kennen.

Ein Wunder, dass man aus einem Teig, und in den Butter in viele Schichten ähnlich dem Blätterteig eingefaltet worden ist der im Unterschied zum Blätterteig aber etwas Hefe enthält, so abwechslungsreiche Ergebnisse erhalten kann. So unterschiedlich wahrscheinlich wie Menschen Vorstellungen davon haben, was ein gutes Croissant ist. Was aber könnte der kleinste gemeinsame Nenner sein, der Maßstab, den wir, zurück in Deutschland, an das Gebäck legen? Einer der Bäcker, den wir besuchen, beschreibt es so: „Eine fein splitternde Kruste, gleichzeitig soll das Innere auf der Zunge schmelzen.“ Die Fachleute diskutieren, was das französische Croissant so unvergleichlich macht: Ist es das Mehl, die oft leicht gesalzene Butter, vielleicht gar eine andere Temperatur, wenn der Teig reift, oder – unausgesprochen – die Fingerfertigkeit beim Umgang mit dem rohen Teig? Dutzende andere Variablen werden ins Spiel gebracht.

Ich lerne in diesen zwei Tagen: Ein gutes Croissant zu backen, ist gleichermaßen Kunst wie Wissenschaft. Ich bekomme davor so hohen Respekt, dass ich mich bereit mache, für ein meisterliches Hörnchen das Zehnfache des normalen Ladenpreises hinzulegen. Das Gebäck mit Schokolade, Nuss- oder Vanillecreme füllen zu wollen, kommt mir noch überflüssiger vor als bisher schon. Und ich merke, wie nach dem Probieren des zehnten Croissants und des xten Stück Baguettes im Gespräch neue Vokabeln auf den Geschmack dessen legen, was ich da im Mund spüre: Brotsprache.

Aber kann man, darf man, was in einer Urschrift „täglich Brot“ heißt, also absolutes Grundnahrungsmittel ist, tiefer beschreiben, mäkeln und loben, ganz so wie Wein, Kaffee, Bier? Längst gibt es Brotsommeliers, lerne ich, wenige, aber immerhin. Und warum nicht? Ganz so selbstverständlich ist Brot nicht mehr Teil der Nahrung. Über dem Misstrauen gegenüber Gluten, den Verschwörungstheorien gegenüber Weizen, der billigen Backware in den Aufbackstationen der Supermärkte, die nur mit Brotgeruch, aber nicht mit Geschmack Absatz machen, wird es fremder. Aber wenn eine Mischung aus Wasser, Mehl, Salz im gebackenen Zustand so vielfältig sein kann, dann muss doch die Sprache mithalten. Ich habe es für das Croissant versucht, sonst wird es, nichts gegen den einfachen Verwandten, bald doch nur noch ein Butterbrot sein.

Fotos: Tom Cash

Die neue Lässigkeit

Das neue „Guten Appetit“ heißt „Viel Spaß“. Jedenfalls begegnet es mir umso öfter, je teurer die Gerichte auf der Speisekarte sind. Wenn der Kellner das sagt, nach einem langen Vortrag, von dem ich nur behalte, dass der in Kräuteressig gebeizte Zander aus dem Greifswalder Bodden auf meinem Teller in einem Sud aus heimischen Pastinaken und Kerbel schwimmt und darauf Gewürzgurkenschaum thront, etwas Kardamom-Crunch darübergestreut wurde – wenn er mir dann also „Viel Spaß“ wünscht, muss ich erst einmal schlucken. Auf der Karte heißt das Gericht einfach „Zander, Gewürzgurke, Kardamom“. Was waren jetzt noch mal die gelben Kleckse im Sud? War da nicht auch noch von Roggen die Rede? Die Aufzählung all der Komponenten auf dem Teller gleicht heute IQ-Tests, bei denen man sich in Sekunden drei Dutzend Dinge merken soll. Und dann nach „Spaß“ verlangen. Geht’s noch?

Kellner mit Tablett
Ausschnitt aus einem Poster von Ludwig Hohlwein für das Restaurant im Deutschen Theater, München, 1907

Ich habe eigentlich nichts dagegen. Das „Guten Appetit“ hat mich schon immer gestört. Außerdem habe ich stets Appetit, wenn ich in einem Restaurant sitze, vor allem in einem guten. Und ein Koch, der weiß, er braucht meinen Heißhunger nicht als weitere Zutat, um mich von seinem Geschmack zu überzeugen, ist mir auch recht. In dem Wunsch nach „Viel Spaß“ steckt Selbstbewusstsein, Könnerschaft, und ja – ich nehme es auch als Aufforderung, mit dem Essen ein bisschen zu spielen. Kein Spaß ohne etwas Anarchie. Warum also nicht den Kardamom-Crunch aus dem Schaum picken oder vielleicht sogar ein Stück Zander ins Wasserglas tauchen, um den reinen Geschmack des Fischs zu erleben?

Das ist heute kein Ding der Unmöglichkeit. Es geht in feinen Lokalen viel lässiger zu als früher. Die weißen gestärkten Tischdecken sind weg, auch kompliziert gefaltete Servietten. Und die Livreen des Personals sind verschwunden, was manch einer bedauern mag. Ich finde es gut. Die Haute Cuisine ist niedrigschwelliger geworden, das marinierte Drumherum weicht der Konzentration auf Essen und Geschmack. Der Gast hat einfach mehr davon, wenn Bedienungen sich nicht darin üben müssen, die Cloches, diese silbernen Glocken, so synchron vom Teller zu ziehen, als handelte es sich um eine olympische Disziplin. Wenn sie stattdessen qualifiziert etwas über die Küche des Lokals erzählen können. Da wechselt man im Laufe eines Abends bisweilen sogar zum intimen Du. Ich habe viel Respekt vor dieser neuen Nonchalance. Sie ist mutig und aus Sicht der Servicekräfte harte Arbeit. Denn das Risiko, im Umgang mit den Gästen Grenzen zu übertreten, ist hoch, höher jedenfalls als bei der uniformen, distanzierten Höflichkeit von früher.

Nur, ich bekomme die neue Nähe nicht mit der Mode zusammen, Speisekarten so sparsam wie nur möglich zu formulieren: „Zander, Gewürzgurke, Kardamom“ oder „Zitronenhuhn, Petersilie, Amalfi-Zitrone“. Man könnte das freundlich als neue Sachlichkeit bezeichnen. Aber diese Lust am Dreiklang verdirbt mir manchmal den Appetit. Sie ist distanziert, blasiert, unterkühlt. Und sie führt auf den Tellern übrigens oft zu einem Einerlei aus etwas Festem, etwas Flüssigem, etwas Cremig-Schaumigem und Crunch. Nur die Aromakombinationen ändern sich.

Ich warte nur darauf, dass mir bald in einem bayerischen Gasthof der Schweinebraten mit Knödeln als „Schwein, Kohl, Weizen“ auf der Karte angeboten wird. Wenn der Teller käme, müsste der Kellner dann zu länglichen Referaten ansetzen, und ich müsste Angst vor dem Erkalten des Bratens haben.

Foto: MCAD Library | CC

Das sittenlose Mahl

Ein Tischbock, daran zwei Bänke geschraubt, das ist das Herz der französischen Esskultur. Wenn ich auf einer der vielen routes nationalesin dem Land unterwegs bin, wundert mich immer die Zahl der Rastplätze entlang dieser Landstraßen. Trotzdem: Ist zwölf Uhr vorbei, sollte man sich beeilen, um noch einen der zahlreichen Picknicktische unter reichlich Schatten spendenden Platanen oder Kastanien zu ergattern. Sonst hockt man in der Wiese und muss von dort aus mit ansehen, wie aus großen Kühltaschen Käse und Wurst ausgepackt werden, Schüsselchen mit Salaten, Tomaten und Honigmelonen, vielleicht eine kleine Flasche Rotwein, auf jeden Fall aber Wasser und eine Thermoskanne Kaffee. Es versteht sich, dass darunter eine Tischdecke ausgebreitet worden ist.

Das Essen im Freien – in Deutschland hat sich darum in den vergangenen Jahren eine ausgefeilte Grillkultur entwickelt, im eigenen Garten, mit immer ausgereifterer Technik. Man muss dafür nur die entsprechenden, immer größer werdenden Abteilungen in unseren Bauhäusern besuchen. Wenn man dann noch das deutsche Rastplatzgeschehen ansieht, kann man sagen: In anderen Ländern wie Frankreich, den Niederlanden oder Großbritannien, vielleicht auch Italien und Spanien, heißt Freiluftkulinarik vor allem Picknick.

Picknick auf Wiese
Beliebtes Wiener Picknickziel: Die Arenawiese im Prater

Ein Picknick kann man nicht im eigenen Garten machen, hinter Zäunen oder Koniferenhecken, das finde ich daran so sympathisch. Es ist eine Sache für die Öffentlichkeit, für den Park oder die freie Natur. Briten und Franzosen streiten sich, wer das Wort erfunden und als Erster damit angefangen hat. Dabei hat das kulinarische Open Air viel ältere Wurzeln, schon im Neuen Testament ist ein Picknick, die Brotvermehrung, überliefert.

Trotzdem spielt es eine Rolle bei der Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft Ende des 18. Jahrhunderts. Die Geschlechter trennten sich normalerweise nach dem Essen, beim Picknick war das nicht möglich. Es war in einer Zeit, in der am Tisch unzählige Rituale galten, die erste sittenlose Mahlzeit. Und man durfte dabei sogar im Gras liegen und die Finger benutzen.

Mein liebstes Picknick besteht aus einer Salami, einer Stange Baguette und Kaffee aus der Thermoskanne. Das ist die Basisvariante. Ich brauche dafür keinen Tisch, sondern nur weiches Gras auf einer schattigen Lichtung am Wegesrand. Nach einigen Stunden Wanderungist solch eine Mahlzeit köstlicher als jedes Menü in einem Sterne-Restaurant. Die Hauptzutat gibt es gratis und im Überfluss: frische Luft, an dem einen Platz geschwängert von Pinienduft, an dem anderen voll von frischem Heu und Wiesenblumen oder moosig-feucht an einem Bach im Wald.

Wenn ich Urlaub mache, wie gerade wieder im Périgord, gehe ich fast täglich wandern. Das Laufen tut gut, am meisten freue ich mich aber auf den Appetit, den ich dabei nach ein paar Stunden entwickelt habe und der das einfachste Essen so ausgemacht schmackhaft macht. Ich bin nach diesem Hunger süchtig. Manchmal stelle ich mich frühmorgens in die Küche, um noch eine Schale Taboulé oder Linsensalat mit in den Rucksack zu packen. Reste vom letzten Abendessen sind auch nicht zu verachten. Vielleicht noch eine halbe Flasche Rotwein. Perfekt ist, wenn ich beim Laufen noch etwas zum Dessert auftreibe: Trauben von einem Weinfeld, einen Birnbaum mit reifen Früchten. Oder wenn die Dornen am Wegesrand etwas hergeben. Und wissen Sie, was: Hier in Frankreich haben die Brombeeren gerade Hochzeit.

Foto: Siegmund Führinger | CC

Ein Bayer für Südafrika

Nichts auf dem Etikett weist darauf hin, dass in diese Flasche etwas ganz Bayerisches abgefüllt wurde. Das hat mich neugierig gemacht. Denn zur bayerischen Weltläufigkeit gehört ja sonst, dass sie sich vor allem nach außen hin so krachledern wie möglich zeigt.

Beast of the deepDoch hinter dem Beast Of The Deep stehen keine Bayern, sondern steht ein Mann aus Kapstadt. Rui Esteves sattelte von Kaffee auf Bier um, als die Craft-Beer-Welle vor acht Jahren sein Land erfasste. Er wurde einer ihrer Köpfe mit einer seltsamen Idee. Er ließ nicht in Südafrika oder in den Ursprungsländern des neuen Biertrends brauen, in den USA oder Großbritannien, sondern orientierte sich ausgerechnet ins hypertraditionalistische Bayern. Esteves muss schon damals verstanden haben, dass „Craft“ nicht nur für neuen Geschmack steht, sondern dass es auch radikal handwerklich gebrautes Bier meint. Und an Handwerk ist in Bayern kein Mangel.

Kennt man die Vorgeschichte, kann man erklären, warum aus einer Flasche, die ziemlich hip aussieht, ein uriger Maibock fließt, also ein Starkbier, das alkoholischer schmeckt als das typische bayerische Helle und auch süßer, das sich aber mit spritzigen Noten verabschiedet. Das Beast of The Deep besticht mit Honignuancen, Biskuit, Karamell. Die Süße wird von einer dezenten Hopfennote abgefangen, die an Pfirsich erinnert. Der cremig-schwere Schluck verabschiedet sich leicht vom Gaumen, es bleibt Zitrus in der Nase. Ein süffiges Biest. Bockbier-Trinkern mit Erfahrung mag es fast zu typisch und langweilig vorkommen. Für Neulinge ist es eine Einsteigerdroge.

Beast Of The Deep, Ungefilterter heller Bock, Brewers & Union, Alkohol 6.5 % vol.

 

App ins Restaurant

Neulich kam ich in ein Restaurant und sah, ich muss sofort wieder gehen. Die Tische waren leer, leichte Musik hallte unter der Decke. Nur am Tresen standen, fast wie auf dem berühmten Gemälde von Edward Hopper, drei junge Männer und hatten ihre würfelförmigen Rucksäcke auf den Barhockern geparkt.

Wussten Sie eigentlich, dass Edward Hopper auf seinen Gemälden oft Restaurantszenen abgebildet hat, nicht nur in Nighthawks von 1942, dabei aber ganz selten ein Teller zu sehen ist, geschweige denn etwas darauf?

Beim Verlassen des Lokals befiel mich eine grauenhafte Vision. Die drei Männer waren Fahrradboten für zwei neuartige Restaurantlieferdienste. Bisher musste man ja meist selbst das Haus verlassen, um sich um die Ecke eine Pizza zu holen. Oder es kam der Sohn des Wirts, wenn man beim Inder bestellte. Die Idee von Deliveroo und Foodora ist, das Liefergeschäft abzukoppeln, mit so viel Restaurants wie möglich zusammenzuarbeiten, eine megalomane Speisekarte im Internet oder besser als Smartphone-App anzubieten und so praktisch jedes Gericht auf den heimischen Esstisch liefern zu können.

Premium Takeaway, so nennen sie das Konzept, und sie haben damit so viel Startkapital eingesammelt, dass die ganze Stadt, in meinem Fall Berlin, mit Werbeplakaten gepflastert ist. So ein Lieferdienst hat große Vorteile, zum Beispiel, wenn ein Paar oder eine Familie sich nicht darauf einigen kann, wohin man am Abend ausgeht. Dann bestellt Papa im Steak-Restaurant, Mama beim Italiener, die Tochter vegan und der Sohn beim Tex-Mex-Laden, Nachos extra. In meiner Vision sah ich Männer mit isolierten Würfelrucksäcken in sonst leeren Restaurants Schlange stehen und der Reihe nach an Haustüren klingeln. Und ich fragte mich: Wo zum Teufel soll ich in Zukunft essen? Muss ich mich doch in leere Restaurants setzen?

Restaurants sind schließlich nicht zum Essen da, vielleicht sogar am wenigsten. Aber das Essen ist es, was die verschiedensten Menschen zusammenführt, zum Reden bringt, ein kleines vorübergehendes Soziotop formt, das Erlebnis schafft, weil man etwas teilt: einen Tisch, einen Raum, die Bedienung, vielleicht sogar dasselbe Gericht. Für mich gehört das Miteinander so zum Genuss wie ein Wirt, der mit Leidenschaft erzählt, warum seine Fettuccine die besten der Welt sind. Darauf soll ich verzichten?

Neulich kam ich in ein anderes Restaurant, da waren die Lichter wie Spots nur auf den Tisch gerichtet. Die Gesichter der Gäste lagen im Dunkeln. Und die Bedienung konnte ich nur nach der Stimme orten. Man sollte nur das Essen sehen. Auch da kam mir der Gedanke: Werden Restaurants irgendwann mal nur noch Showrooms ihrer Speisekarte sein, so wie der Apple-Store? Halt. So weit ist es längst nicht. Es gibt ja noch ganz andere Bestell-Apps, nämlich für Restauranttische. Auch ich marschiere inzwischen nicht einfach mehr in ein Lokal, sondern mache auf Quandoo oder Opentable oft kurzfristig einen Tisch klar. In einer Großstadt wie Berlin ist das nötig, vor allem ums Wochenende herum. Die Reservierungswut ist immens, man kann jederzeit kostenlos stornieren.

Doch es gibt auch Wirte, die sich inzwischen beklagen, auf wie vielen reservierten Tischen sie sitzen bleiben. Was macht die Appisierung mit der Restaurantwelt? Mir werden Lokale immer lieber, die Reservierungen ablehnen und auch nicht außer Haus liefern. Ich hoffe, sie sind die Zukunft.

Foto: Sam Saunders | CC

Das neue Protein

Auf dem Jahrmarkt der kulinarischen Eitelkeiten gibt es zwei neue Begriffe: „Pegan“ und „entomophag“. Mal sehen, was in 2016 mehr von sich Reden macht. „Pegan“ ist so zusammengesetzt wie Brangelina, also ein Kofferwort aus vegan und paleo und meint tatsächlich eine steinzeitliche Gemüseküche. Es ist das Non-plus-Ultra für alle, die wirklich, wirklich politisch korrekt essen wollen. Denn für Peganer sind nicht nur tierische Produkte tabu, sondern auch Soja, die Pflanze, für die Regenwälder weichen müssen und die der Liebling der Gentechniker ist.

Der andere Trend sieht die Zukunft der Ernährung bei Insekten. Rational spricht viel dafür, dass wir sie auf den Speiseplan nehmen. Denn egal ob Soja oder Fleisch, man sieht schon heute, welche Folgen für die Umwelt und das Klima die Ernährung mit diesen Proteinquellen hat. Und was, wenn einmal neun Milliarden Menschen auf dem Planeten leben?

Die Welternährungsorganisation (FAO) hat deshalb schon 2013 Insekten als Alternative in die Debatte gebracht. Maden, Grillen oder Ameisen sind nämlich echte Proteinbomben. Und im Vergleich zu Schwein, Kuh oder Rind ganz gehörig im Vorteil. Man braucht kaum Platz, um sie züchten. Sie stoßen weniger Klimagase aus. Und brauchen viel weniger Futter, um die gleiche Menge an Protein zu bilden. In Sachen Nachhaltigkeit und Klimafreundlichkeit, scheint es, sind Insekten also Superfood. Laut FAO ernähren sich bereits zwei Milliarden Menschen von fast 2.000 verschiedenen Insektenarten.

Bei so viel Vernunft möchte möchte man doch gleich eine frittierte Grille mit den Zähnen knacken.

Sie nicht? Mir geht es genau so. Und ich glaube sogar, auch vielen der zwei Milliarden angeblich praktizierender Entomophagen: Auf asiatischen Nachtmärkten, wo Grillen, Heuschrecken und Riesenwanzen als Mini-Schaschlik angeboten werden, habe ich nie Einheimische zugreifen sehen, nur junge, alkoholisierte westliche Touristen, die nichts besseres für eine Mutprobe fanden.

Woher kommt die Skepsis? Klar, viele Insekten gelten als Ungeziefer, als Anzeichen für unhygienische Zustände im Haus – und sogar als Krankheitsüberträger. Aber gilt das für Schwein und Huhn nicht ganz ähnlich? Und so ganz eindeutig ist die Ablehnung ja nun auch wieder nicht. Immer mehr Menschen sorgen sich um den Erhalt der Biene – oder hängen Insektenhotels in ihre Gärten. Ich halte am meisten von der These, nach der der Mensch einen allgemeinen Unwillen hat, Tiere zu essen. Den haben wir uns nur gegenüber ganz bestimmten, einzelnen Arten über Jahrtausende abgewöhnt.

Auf die vielen Start-ups, die derzeit in Insektennahrung machen, kommt also Überzeugungsarbeit zu. Am erfolgreichsten sind bislang die, die uns nicht das pure Insekt in den Mund schieben wollen. Aus den USA etwa kommen Chips aus Grillen-Mehl, beworben als proteinreich und praktisch fettfrei. Noch mehr Zukunft aber haben Insekten als Tiernahrung. Dazu gibt es neuerdings sogar eine Risikoeinschätzung der EFSA, das ist das europäische Amt für Lebensmittelsicherheit. Seit dem BSE-Skandal ist man nämlich vorsichtig, an Tiere tierische Proteine zu verfüttern. Die EFSA hat festgestellt, das etwa Hühner auch sonst Würmer und Maden lieben und es kein überhöhtes Risiko gibt. Sieht nach einer großen Chance für die Tiermehl-Wirtschaft aus.

Aber industriell verarbeitete Insekten – wollen wir uns das wirklich antun. Wenn man bedenkt, dass es sich um die uralte Lebewesen handelt. Ich sehe schon den nächsten Trend kommen. Der heißt dann „entopegan“.

Foto: William Ng | CC

Der grüne Kitt für all das harte Zeugs

Kennen Sie Grünkohl? Ich behaupte mal dreist: Nein.

Vor einiger Zeit lag ein grünes Blatt auf meinem Teller. Es krönte eine kleine Scheibe Pastete. Der Kellner hielt sich bedeckt, was das sei. „Da kommen Sie nie drauf“, sagte er, „ich verrate es erst hinterher.“ Er wusste, mit einem Gast wie mir kann man das machen. Ich biss hinein: ziemlich al dente und ein sehr grüner und gleichzeitig nussiger Geschmack. Ein Blatt, dass es in sich hatte. Der Kellner strahlte mich an: „Grünkohl, nur ein paar Minuten blanchiert.“ Da wusste ich, Sie und ich kennen dieses Gemüse nicht.

Grünkohl hat nun wieder Saison. Und kommt nicht einfach so auf den Tisch, Grünkohl wird zelebriert, vor allem in Norddeutschland. Dort treffen sich die Menschen zum Boßeln. Sie wandern mit Schnaps bewehrt an Deichen entlang und über Wald und Flur. Die Richtung zeigt eine Kugel, die abwechselnd nach vorne geschmissen wird und nach der dann alle suchen, je nachdem, wie leer die Schnapsflaschen bereits sind.

Historische Kohlfahrt
Historische Kohlfahrt 1934 in Jever

Der Höhepunkt ist das folgende Grünkohlessen. Nichts schmeckt besser, wenn man ausgekühlt und beschwipst – die Kugel führt naturgemäß nie den direkten Weg – aus der novemberlichen Nasskälte ins Haus kommt und das Gefühl hat, dass einem der Kümmel schon aus den Ohren dunstet. Diese Spirituose gehört zum Grünkohl-Ritual nämlich so wie Pinkel und Bregenwurst. Das wiederum sind Fleischerzeugnisse, die traditionell mit Hafergrütze und Hirn bezutatet sind. Zum Leidwesen vieler Norddeutscher ist Hirn allerdings heute verboten.

Doch, es spricht einiges dafür, Boßeln endlich als Weltkulturerbe anzumelden. Wenn nur dem Grünkohl dabei etwas Würde gelassen würde.

Auf den ersten Blick gehört er gemeinsam mit Spargel und Kartoffel zur Chef-Troika des deutschen Gemüses. Über wenig anderes können wir so lange philosophieren wie Italiener über Pasta oder Franzosen über eine Pastete. Beim Grünkohl allerdings geht es nie um das Gemüse selbst, sondern um all das, was dazugehört an: die Wurst, das Fleisch, der Schnaps. Der Kohl ist nur der grüne Kitt für all die harten Sachen.

Was mit ihm passiert, als Rezept zu bezeichnen, schaffe ich nicht. Grünkohl wird mit Bauchspeck oder anderen Fettlieferanten stundenlang geschmort, bis eine grau-grüne Masse entstanden. Ein Martyrium. Dass dann noch Vitamin C vorhanden sein könnte, für das der Grünkohl so gefeiert wird: schwer vorstellbar. In Süddeutschland, wo ich Menschen die Delikatesse vorführen wollte, wurde ich sogar einmal gebeten, den Kohl vorsichtshalber noch länger auf dem Herd zu lassen. Andere schwören, noch ein zweites Mal totgekocht, entschuldigung: aufgewärmt, schmecke es noch besser. So ein Grünkohl hat kein Eigenaroma mehr. Er mildert bestenfalls den Fettgeschmack. Ich habe den Verdacht, die Deutschen halten Grünkohl für unverdaulich.

Es geht anders. In den USA etwa, dort heißt er Kale, ist Grünkohl Trendgemüse. Ein Superfood. Glutenfrei? Antioxidanz? Detox? You name it!, sagt der Amerikaner. Ach, eigentlich alles zusammen. Und nie käme man dort die Idee, das Gemüse dem Siechtum auszusetzen. Aus Kale werden Salate gemacht, er wird im Ofen bei mäßiger Temperatur zu Chips getrocknet oder kommt roh in den Mixer – für einen Smoothie.

Möchten Sie Grünkohl neu kennenlernen. Dann gehen Sie boßeln. Mit viel Kümmel, Pinkel, und zerkochtem Gemüse. Und machen Sie am nächsten Morgen bloß weiter. Mit der Entgiftung per Grünkohl-Smoothie. Ich blanchiere.

Fotos: Peet Sneekes, Fossilmike| CC

Souvenir aus Kastanien

Die seltsamsten Souvenirs sind die, die man schon besitzt, bevor man auf Reise geht. Wie dieser Packen eingeschweißter, vakuumierter Kastanien in meinem Vorratsschrank. Auf einmal ist er mir wieder eingefallen. Wann ich ihn gekauft habe? Keine Ahnung. Ob das Haltbarkeitsdatum überschritten ist? Hoffentlich nicht.

Hier im Limousin – die Ferien haben mich nach zwei Jahren Pause endlich wieder nach Frankreich und nahe an die Atlantikküste geführt – sind die Kastanien zuhause. Dieser Landstrich ist so etwas wie die französische Uckermark: sehr wenige Menschen, viel Natur. Und man kann nicht sagen, dass er kulinarisch reich wäre. Aders als weiter südlich: Ja, da liegt das Perigord, mit Trüffel und  Entenstopfleber, den Bergerac-Weinen und hervorragendem Käse.

Weiter nördlich wächst kein Wein, hier sind die Wiesen saftig. Haselnussbraunes Vieh weidet darauf, das Limousin-Rind, es ist für sein Fleisch berühmt. Aber auf einer längeren Wanderung kann man Köstlichkeiten finden: Brombeeren, wilde Äpfel und Birnen, Sauerampfer, Brunnenkresse. Und Steinpilze. Alles wächst fast am Wegrand.

Und über einem hängen in dem hellgrünen Laub der Kastanien diese hellgrünen Bälle. Als wenn sich Igel mit Tennisbällen gepaart hätten. Darin stecken die Nüsse, die diese Region neben den Rindern prägt. Kaum eine Ortschaft, in der es nicht eine Rue des Chatagniérs gäbe oder eine Maison des Marroniers.

Dass die Kastanie solche Denkmäler erhalten hat, liegt daran, dass sie einst zu einer Rarität geworden war. Ihr Holz enthält viel Tannin, einst ein wichtiger Gerbstoff. Zu Beginn der Industrialisierung und bevor Chemiker künstlichen Ersatz entwickelt hatten, war es für Kastanienbauer kurzzeitig einträglicher, gleich den gesamten Stamm zu verkaufen. Ganze Wälder wurden abgeholzt.

So verschwand auch ein Grundnahrungsmittel. Das war die Kastanie über viele Generationen im Limousin, südwestlich in der Ardeche, auch in der Toskana. Ihre Nüsse enthalten kaum Öl, dafür aber viel Kohlenhydrate und Zucker. Brot der Armen wurde sie deshalb genannt. Glückliche Arme: Es wuchs ohne großes Zutun an den Bäumen.

Doch ausgerechnet jetzt sind sie noch nicht reif. Der Herbst ist zu jung. Es ist leichter, Pilze zu finden, sogar im Supermarkt oder an den Marktständen. Nur gut, dass es hier Menschen gibt, die Kastanien einmachen. Und einen verrückten Deutschen damit ausstatten, kurz bevor die Saison startet.

Ein großes Glas Maronen steht nun auf dem Küchentisch. So heißen die besonders großen Nüsse der Edelkastanie. Man sollte sie nicht verwechseln mit der Rosskastanie, dem deutschen Straßen- und Biergartenbaum, eine völlig andere Pflanze, auch wenn sich die Früchte so ähnlich sind. Die Maronen sind in diesem Urlaub meine Trüffel. Wie es immer ist, wenn man die Zutaten fast abzählen kann: Die Exklusivität regt die Phantasie an.

Ich habe sie in den letzten Tagen grob gehackt, in Butter angebraten und mit Ziegenkäse über Salat gestreut. Oder im ganzen ebenfalls knusprig ausgebacken in einen Rinderschmortopf versenkt. Dieses kartoffel-nussige Aroma passt zu vielem, mit Knoblauch und Rosmarin wird aus Kastanien auch ein feines Pesto für Spaghettini. Hier in der Gegend gibt es natürlich noch mehr Variationen, für Süßspeisen, für Pürees, für Polenta und Brot.

Inzwischen ist das Glas aber schon fast leer. Um so mehr denke ich an das, was hier einfach nicht aufzutreiben ist. Diesen einen  Beutel vakuumierter Kastanien zuhause in Berlin.

Foto: mout1234 | CC